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  Robin Philpot  
  Ruanda 1994 - die inszenierte Tragödie  
     
  Teil 3

Kapitel 13: Eine unangreifbare entschiedene Tatsache

 

„Der Oberbefehlshaber hatte gesprochen und dieses Urteil für unangreifbar, heilig und höherwertig gegenüber bloßen Sterblichen erklärt – wie konnten seine Untergebenen es wagen, ihm zu widersprechen?”

Émile Zola, J’accuse

 

Eines haben das Nürnberger Tribunal und die ad hoc einberufenen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda gemeinsam, beide enthalten ein Element dessen, was als „Siegerjustiz“ bezeichnet wird, bemerkt Ramsey Clark, der 1945 in Nürnberg dabei war und heute leitender Rechtsbeistand für den Adventistenpastor Elizaphan Ntakirutimana ist. Es ist eine Frage von Macht, die über Recht geht mit dem Ziel, den Feind zu dämonisieren.

„Man sollte sich daran erinnern,“ fügt Ramsey Clark hinzu, „dass bei verschiedenen Gelegenheiten während des Nürnberger Prozesses Hermann Göring ausrief ´und was ist mit Hamburg?´, einem berüchtigten schweren Bombardement einer zivilen Stadt, und er rief aus ´was ist mit Hiroshima?´. Er könnte auch Berlin und Dresden hinzugefügt haben“. 115  

Der ehemalige Generalanwalt der Vereinigten Staaten von Amerika rief diese Zwischenfälle ins Gedächtnis um zu zeigen, dass, nachdem Siegerjustiz eher Machtausübung ist als Streben nach Gerechtigkeit, nur die Taten einer Seite behandelt werden, was die Rechtssprechung mehr als nur korrumpiert. „´Sieger´-Justiz liegt nicht begründet in einer Wahrheit, die auf dem grundlegenden Prinzip der Gleichheit beruht, das nicht nur die Mutter der Gerechtigkeit, sondern wesentlich für die Wahrheit selbst ist. Selektivität ist in sich falsch, da sie nicht die ganze Wahrheit wiedergibt, man könnte sagen, das gesamte Bild.“ 

Das Nürnberger Tribunal, das nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet worden ist, ist immer noch glaubwürdig, und das zu Recht. Es hat Angriffskriege kriminalisiert und die Auffassung der nationalen Souveränität neu bestärkt, beides fundamental für die Erhaltung des Friedens und Ecksteine der Charta der Vereinten Nationen. Im Gegensatz zu Nürnberg lässt das ICTR (Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda) jeden Bezug zu Angriffskriegen und fremder Intervention aus und legitimiert sie auf diese Weise. Das ICTR war ganz klar darauf ausgerichtet, eine Seite zu strafen und die andere zu schützen.

Ein Strafgericht bietet eine großartige Möglichkeit, seine Feinde zu zerstören, hält Ramsey Clark fest. „Man kann jetzt der Welt sagen, dass diese bösartigen Serben die Schuldigen sind, die das mörderische Treiben zu verantworten haben und nicht wir, die Jugoslawien Stück für Stück auseinander gebrochen haben.“ Nach dem selben Muster sind in Ruanda die schrecklichen „Genozidäre“ die Schuldigen und nicht wir, die Ruanda dadurch zerstört haben, dass wir blind eine Invasionsarmee unterstützten.

Beide, die ehemalige Chefanklägerin des internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda, Louise Arbour, und der ehemalige UNO-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali neigen dazu, Ramsey Clarks Meinung über die inhärente Ungerechtigkeit zu teilen, die in der Selektivität der ad hoc-Tribunale liegt. 116 Louise Arbour räumt ein, dass die Tatsache, dass Ruander, Serben und Kroaten die einzigen sind, die für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden, diese Aussonderung weniger gerecht macht, bleibt aber dabei, dass es die Selektierten nicht weniger schuldig macht. Während Frau Arbour darauf beharrt, die ad hoc-Tribunale als Bahnbrecher für den phantastischen internationalen Strafgerichtshof – phantastisch deswegen, weil drei der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats dagegen sind – zu loben, sind Boutros Boutros-Ghali und Ramsey Clark bezüglich der Tribunale weniger optimistisch und lange nicht so naiv.      

Aber ist es im Fall Louise Arbour wirklich Naivität? In ihrer öffentlichen Rede in Paris am 21. November 2002 berief Frau Arbour sich auf Kanadas Charta der Rechte und Freiheiten, die 1982 in die kanadische Verfassung aufgenommen worden war, um ihre Verteidigung des internationalen Strafgerichtshofs zu untermauern. Diese Referenz ist sehr schwach, weil diese Charta die wichtigste Waffe in einem politischen Manöver der kanadischen Regierung bildete, das darauf gerichtet war, die anerkannten verfassungsmäßigen Rechte von Québecs Nationalversammlung besonders in den Bereichen von Sprache und Kultur zu beschneiden. Frau Arbour vermied es geflissentlich, das zu erwähnen. Natürlich erwähnte sie auch nicht, dass die Nationalversammlung in Québec fast einstimmig gegen die Verfassung von 1982 und die begleitende Charta stimmte. Ja, am 20. Jahrestag der Annahme durch Ottawa wiederholte die Québecer Nationalversammlung ihre Ablehnung des Anschlags von 1982, diesmal einstimmig. Es ist interessant zu beobachten, dass der Widerstand gegen den Internationalen Strafgerichtshof hauptsächlich von Ängsten getragen wird, die neue internationale Körperschaft werde die Macht souveräner Nationen in ähnlicher Weise einschränken, wie kanadische Verfassung und Charta 1982 Macht von Québec weggeschnappt haben.

Der ehemalige UNO-Generalsekretär Boutros-Ghali meint, dass die Vereinigten Staaten von Amerika die Einrichtung von ad hoc-Tribunalen schon allein aus dem Grund favorisiert haben, dass nur Ruander und Jugoslawen angeklagt und verfolgt werden. Gleichzeitig wehren sie sich heftig gegen die Einrichtung des ständigen Internationalen Strafgerichtshofs, der Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika belangen könnte. „Sie glauben, dass sie selbst über dem Gesetz stehen“, sagte Boutros-Ghali. 117 

Ramsey Clark zeigt, dass das Problem viel weiter zurück liegt. „Es gäbe keine UNO, wäre in der Charta auch nur der leiseste Hinweis zu finden gewesen, dass es einen Strafgerichtshof geben solle. Wäre die Einrichtung eines solche erwähnt worden, wäre das Treffen vorbei gewesen. Die Leute hätten ihre Koffer in Washington gepackt und wären schon vor dem Treffen in San Francisco abgereist. Als erste hätten die Vereinigten Staaten von Amerika die Konferenz verlassen. Heute im Jahr 2002 würden die Vereinigten Staaten von Amerika das Abkommen nicht unterzeichnen. Das ist nichts besonderes für dieses Land,“ sagte er. „Macht mag es nicht, wenn über sie geurteilt wird. Sie ist entschlossen, sich nicht beurteilen zu lassen und wenn sie stark genug ist, wird sie es auch nicht.“ 

Der einzige Gerichtshof, der in der Charta der Vereinten Nationen zu finden ist, ist der Internationale Gerichtshof in Den Haag. Dieser befasst sich nicht mit Strafsachen, sondern nur mit Zivilverfahren in einem eingeschränkten Ausmaß. „Dessen Richter sind Schüler der Regierung, die sie bestellt hat,“ betont Ramsey Clark, „und sie behandeln nur Fälle, über deren Zuweisung sich die UNO-Mitglieder einig sind.“ Der ehemalige Generalanwalt Clark bleibt dabei, dass die internationalen Strafgerichtshöfe für Ruanda und Ex-Jugoslawien schlicht nicht durch die Vereinten Nationen legitimiert und deswegen auch nicht legal sind. 

Der Widerspruch ist eklatant. Der hartnäckigste Gegner des Internationalen Strafgerichtshofs ist das Land, das die beiden Resolutionen in den UN-Sicherheitsrat eingebracht hat, die Strafgerichtshöfe für Ruanda und Jugoslawien einzurichten. Proponent Nummer 1 war die Botschafterin der Vereinigten Staaten von Amerika Madeleine Albright, die bald danach Außenministerin wurde.

Die führende Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika bei der Einrichtung und Finanzierung der internationalen Strafgerichtshöfe hat die gesamte Tätigkeit beeinflusst, die diese in Arusha wie in Den Haag betrieben haben. Besonders anschaulich kam das in einem symbolischen Ereignis im Jahr 1998 zum Ausdruck. Als Präsident Clinton 1998 durch Afrika eilte, machte er einen Zwischenaufenthalt in Arusha, Tansania, gerade wie seine Frau ein Jahr davor. Während seines Aufenthalts hissten die Bediensteten des Tribunals, die mitgekriegt hatten, dass der wirkliche Boss in der Stadt war, die Stars and Stripes dort, wo die Fahne der UNO hätte hängen sollen. 

Das englische Rechtssystem wurde angenommen und nicht das kontinentale. Der Chefankläger hatte die Macht, Tatbestände darzulegen und Anklage zu erheben und hatte daher die wichtigste und mächtigste Position im Tribunal. Aus diesem Grund wurde auch kein Ankläger ohne vorhergehende Zustimmung des Außenministeriums der Vereinigten Staaten von Amerika bestellt. Das unterwürfige Verhalten der Ankläger gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika und deren Außenpolitik zeigt, dass sie wussten, wem sie verpflichtet sind.  

Carla Del Ponte, Louise Arbours Nachfolgerin als Chefanklägerin, wagte es, die Ordnung durcheinander zu bringen, indem sie Anklage gegen Mitglieder der RPF vorschlug. Umgehend wurde sie vom Ruanda-Tribunal entfernt und war nur mehr für Ex-Jugoslawien zuständig.  

Der erste Ankläger des Tribunals, Richard Goldstone aus Südafrika, veröffentlichte 2000 ein selbstgefälliges Buch unter dem Titel Für Menschlichkeit. 118 Das Buch strotzt vor unterwürfigen und unehrlichen Komplimenten für die Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika im internationalen Strafgerichtshof und besonders für Madeleine Albrights eigenen persönlichen Beauftragten David Scheffer, der dem Büro der Anklage als Sonderberater zugeteilt wurde, unmittelbar nachdem Goldstone den Job bekommen hatte. Der südafrikanische Ankläger verbrachte viel Zeit in Washington und New York auf Cocktailparties und anderen gesellschaftlichen Ereignissen. Mit der Zeit nahm das Ausmaße an, dass UNO-Generalsekretär Boutros-Ghali Goldstone informierte, dass sich andere Mitglieder des UN-Sicherheitsrats über seine zu enge Beziehung mit den Amerikanern beschwert hatten. Boutros-Ghali selbst teilte diese Meinung.     

Der bedenklichste Aspekt von Richard Goldstones Buch liegt in seiner Beschreibung, wie das Büro der Anklage Informationen vom CIA bekam, um die Anklagen auszuführen. Goldstone spricht vom CIA, als wäre der eine allgemein verfügbare Datenbank, die verlässliche Informationen ausspuckt. Man wundert sich, wie ein Mann mit solcher Macht über Menschenleben so naiv sein konnte. Oder ist es eine neue Methode, unterschwellige pro-CIA-Propaganda zu betreiben? Falls Herr Goldstone das noch nicht weiß, ein Geheimdienst wie der CIA steht nicht im Ruf, ein objektiver Lieferant verlässlicher Informationen zu sein. Er liefert Informationen - richtige oder falsche – solange diese dazu dienen, seine strategischen Ziele zu erreichen und Interessen und Investitionen der Vereinigten Staaten von Amerika zu beschützen. Im Gegensatz zu dem angeblichen Auftrag, der dem internationale Strafgerichtshof erteilt worden ist, ist Gerechtigkeit nicht Priorität Nummer 1 des CIA.  

Richard Goldstones blinder Glaube an das Streben der Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Guten erreicht neue Höhen in seiner Schlussfolgerung. Er äußert sich zufrieden über die Vereinigten Staaten von Amerika und Europa, die das ehemalige Jugoslawien niederbombardiert haben. „Nie zuvor hat eine Nation militärische Gewalt gegen einen souveränen Staat nur aus dem Grund benutzt, dass die Menschenrechte von dessen Bürgern verletzt worden waren.“ 119 Ja, Virginia, es gibt den Weihnachtsmann.

Der Mann, der als erster das Amt des Anklägers in Kigali bekleidete, wollte mit seinem Buch Für Menschlichkeit eindeutig seinen ehemaligen Vorgesetzten einen Gefallen erweisen. Begraben unter kriecherischen Anekdoten über die höheren Mächte in New York und Washington findet sich ein kurzer Absatz über die ruandische Tragödie. Die hauptsächliche Auslassung in diesem kurzen Absatz sagt mehr als das ganze Buch, was wirklich geschehen ist und was nach dem Willen seiner Oberen nicht diskutiert werden soll. 

 „In der Nacht des 6. April 1994 begann der grauenvolle Genozid in Ruanda,“ schreibt Richard Goldstone. Er fährt fort mit der Geschichte, die wir bereits bestens kennen. Kurz gesagt, an einem feinen Abend im April beschlossen die Hutus in Ruanda, die Tutsis auszurotten. Kein Wort über die Ermordung von zwei afrikanischen Staatsoberhäuptern. Kein Wort über den Krieg, der seit 1990 tobte. Eine derart leichtfertige Haltung gegenüber entscheidenden Tatsachen ist kriminell, besonders wenn sie von einem Mann kommt, der angeblich der Gerechtigkeit verpflichtet ist. Es sträuben sich die Haare bei dem Gedanken, dass er die Macht hatte, die Menschen auszuwählen, die vom internationalen Strafgerichtshof für Ruanda angeklagt und verfolgt werden sollten. 

Im Oktober 1996 wurde Richard Goldstone von Louise Arbour abgelöst. Alle Argumente für Frau Arbours Bestellung münden in einem Punkt: die Außenministerin der Vereinigten Staaten von Amerika Madeleine Albright testete sie, interviewte sie und wählte sie für diese Position aus. Es könnte hinzugefügt werden, dass Louise Arbour Madeleine Albright auch ihre Nominierung für das kanadische Höchstgericht zu verdanken hat. Als Premierminister Jean Chrétien sie bestellte, ließ er keinen Zweifel daran, dass Louise Arbours internationale Bekanntheit aufgrund ihrer Tätigkeit beim Tribunal der Hauptgrund dafür war, sie auf die Überholspur in die prestigeträchtige Position in Kanadas Höchstgericht zu hieven.

Louise Arbour wurde für die Position am Tribunal nicht einmal vom kanadischen Außenministerium nominiert. Als Richard Goldstone seinen Rücktritt ankündigte, schlug er vor, einen Ankläger zu bestellen, der auch die französische Sprache beherrschte. Die Vereinigten Staaten von Amerika hätten nie die Bestellung eines Franzosen zugelassen, da Frankreich ein ernstzunehmender Rivale in Afrika und am Balkan war. Der Kandidat musste daher französisch sprechen, loyal gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika sein und über ein gesundes Misstrauen gegenüber Frankreich verfügen. Diese Art von französisch Sprechenden kann man in Ottawa finden.

Den Wünschen ihrer Auftraggeber entsprechend gab Louise Arbour immer wieder laute Erklärungen ab, die ein schlechtes Licht auf Frankreich warfen, schützte aber sorgfältig die Vereinigten Staaten von Amerika. Zum Beispiel beschuldigte sie in Paris im Dezember 1997 Frankreich, das internationale Tribunal zu boykottieren und Kriegsverbrecher zu schützen. Sie verurteilte Frankreichs „bemerkenswertes Versagen auf allen Ebenen“ im Gegensatz zu der hervorragenden Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten von Amerika. 120  

Ins Auge springt auch die Gefügigkeit des internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda gegenüber der Außenpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika, besonders die Weigerung der Ankläger, Verbrecher der Ruandischen Patriotischen Front RPF anzuklagen und die Hintermänner der Ermordung Präsident Juvénal Habyarimanas am 6. April 1994 zu verfolgen. Ein beträchtliches Ausmaß von Beweisen massiver Verbrechen der RPF an der Zivilbevölkerung von Ruanda ist zusammengetragen worden. Alle Finger zeigen auf die RPF und Paul Kagame als Hintermänner des Mordes am 6. April 1994. Würde allerdings der Ankläger jetzt Anklage gegen ein Mitglied der RPF wegen dieses Verbrechens neun Jahre nach dessen Begehung erheben, bedeutete das ein Eingeständnis des Versagens des internationalen Strafgerichtshofs. Am schlimmsten für das Tribunal wäre dann, dass die ganze Geschichte, die zur Erklärung der ruandischen Tragödie und des furchtbaren Kriegs im Kongo aufgebaut worden war, dahinschwinden würde wie eine Sandburg an einem verlassenen Strand.

 


 

Der internationale Strafgerichtshof für Ruanda in Arusha existiert und etwa 65 Gefangene warten auf ihre Verhandlung. Die Familien der Opfer in Ruanda und anderswo wollen wissen, was geschehen ist. Die Welt will wissen, was einen dermaßen furchtbaren Verlust an Menschenleben verursacht haben könnte. Viel wurde über die Angelegenheit geschrieben, aber nur wenige Menschen sind zufrieden mit den Informationen und Begründungen, die sie bekommen. Kann der internationale Strafgerichtshof für Ruanda diese Tragödie erhellen? Und welche gravierenden Hindernisse gibt es für faire Verfahren gegen diejenigen, die angeklagt worden sind und in Arusha festgehalten werden?

Ramsey Clark bezweifelt, dass der internationale Strafgerichtshof für Ruanda die Fragen der Menschen bezüglich der Tragödie beantworten wird können, und die Gründe, die er dafür anführt, erklären auch, warum die Angeklagten kaum faire Verfahren bekommen werden. „Ich würde nicht das zentrale Unrecht unterschätzen, das in der Auswahl der Leute liegt, gegen die Anklage erhoben wird. Es sind Feinde, die sie auswählen,“ sagte er mir in einem Interview. „Es ist wirklich ein Krieg mit anderen Mitteln, und eine sehr grausamer dazu. Gewissermaßen liegt die Macht der Anklageerhebung in den Händen der RPF, da diese die Situation unter Kontrolle hat. Die Anklage käme ohne sie nicht weiter, ohne sie könnten keine Fälle präsentiert werden.“  

Die überwiegende Mehrheit der Fakten, deren es bedurfte, um eine Anklage zu erheben oder jemanden zu verteidigen, bleibt in Ruanda. Im Verfahren gegen Pastor Élizaphan Nkatirutimana, der von Ramsey Clark verteidigt wird, kamen alle Zeugen der Anklage aus Ruanda, aber nicht ein Zeuge der Verteidigung konnte vor dem Tribunal in Arusha erscheinen. Der Verteidiger weiß, wer die Zeugen sind und weiß, dass sie bereit wären auszusagen, aber sie dazu zu verpflichten würde ihr Leben in Gefahr bringen. Wenn der Verteidiger auch nur versuchte, mit den Zeugen zu sprechen, sogar indirekt, wäre ihr Leben in Gefahr. Das Tribunal in Arusha hat einfach nicht die Macht, Menschen zu Aussagen zu veranlassen und kann auch keinerlei Zeugenschutz garantieren. Es hat nicht einmal die Macht, Zeugen zu finden, sei für die Anklage oder für die Verteidigung.

Ein weiteres eklatantes Problem besteht darin, dass afrikanische Gefangene, die vom internationalen Strafgerichtshof für Ruanda angeklagt worden sind, keinen Anspruch auf einen Verteidiger ihrer Wahl haben. Entsprechend der typischen Doppelmoral gewährt die europäische Ausführung des selben Tribunals den Gefangenen aus dem ehemaligen Jugoslawien dieses Recht. Die Filiale in Arusha bestellt ungeniert Verteidiger für Gefangene gegen deren Willen. Die Auswirkungen können verheerend sein. Zum Beispiel starb am 24. Januar 2003 der 45 Jahre alte anglikanische Bischof Samuel Musabymana im Gefängnis. Der internationale Strafgerichtshof für Ruanda hatte gegen seinen Willen einen Verteidiger bestellt, während der Bischof weiterhin vom kanadischen Anwalt Peter Zaduk verteidigt werden wollte. Ohne Verteidiger konnte Bischof Musabymana die erforderliche medizinische Behandlung nicht bekommen, noch konnte er besucht werden, und besonders seine Familie wurde systematisch von ihm fern gehalten. 

Ramsey Clark hebt auch hervor, dass sowohl das Tribunal als auch die Anklage die Aufgabe haben, Menschen zu überführen. Ihr Auftrag geht total daneben, wenn sie keine Urteile fällen. Aus diesem Grund sind die Chancen sehr gering, dass der internationale Strafgerichtshof für Ruanda hilft, die Massaker in Ruanda im Jahr 1994 zu verstehen. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass die in Arusha eingesperrten Gefangenen ein faires und rechtmäßiges Verfahren bekommen. 

 


 

Louise Arbour wurde bekannt, weil sie einige wichtige Leute in Europa unter dem einhelligen Applaus der internationalen Medien unter Anklage stellte und einsperren ließ. Seitdem heißt es bei jedem öffentlichen Auftritt Frau Arbours, dass die „kleine Dame“ so mutig war, dass sie Diktatoren zum Zittern brachte. Genauso spektakuläre Verhaftungen ließ sie auch in Afrika vornehmen, obwohl diese dort weniger Publizität bekamen. Das Ziel war immer das gleiche: internationale Aufmerksamkeit zu erringen für sich und das Tribunal, dessen Ruf im übrigen zu wünschen ließ. Das beste Beispiel in Afrika war die Operation MAKI (NAirobi-KIgali) am 18. Juli 1997. Frau Arbour ließ sieben Leute in Nairobi verhaften. Daraufhin ließ sie diese „großen Fische“ als die sie diese bezeichnete, mit Gewalt nach Arusha überstellen, in schamloser Verletzung der eigenen Statuten des internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda.

Das Hauptproblem bestand darin, dass eine Anklage nur gegen zwei der sieben existierte, als sie verhaftet wurden. Die anderen fünf wurden verhaftet, mit einem Lastauto nach Arusha gebracht und dort Monate lang festgehalten, ohne überhaupt zu erfahren, warum sie eingesperrt waren. Ein Mann, Esdras Twagirimana, wurde zwei Monate lang ohne Anklage festgehalten. Als das Tribunal endlich seinen Irrtum eingestand, schickte es Herrn Twagirimana zurück nach Nairobi, wo er erneut festgenommen und die finanzielle Entschädigung konfisziert wurde. 121   

Louise Arbour behauptet, dass der internationale Strafgerichtshof für Ruanda verpflichtet war, Methoden anzuwenden, an die andere Gerichte gar nicht denken durften. Sie war der Ansicht, dass der internationale Strafgerichtshof für Ruanda größerer Flexibilität bedurfte, Verdächtige zu verhaften und einzusperren, ohne eine Anklage vorzulegen. Der internationale Strafgerichtshof für Ruanda konnte einfach keine rechtlich fundierte Vorgangsweise einhalten, wie das in Europa und Nordamerika der Fall ist. 122  

Mit anderen Worten - Afrika ist verschieden, und „unser Rechtssystem“ muss leider unterschiedlich angewendet werden. Wenn die Vertreter einer solch illustren internationalen Institution tatsächlich der Meinung sind, dass Afrika so verschieden ist, dann wäre es nur logisch sie aufzufordern, wegen Befangenheit zurückzutreten aus dem Wissen heraus, dass sie weder die Mittel noch das Verständnis und die Erfahrung haben, ihr Mandat angemessen auszuüben. Das ist natürlich nie geschehen. Es scheint, dass sie es auf beide Arten haben wollen.

Einerseits behaupten sie, sich auf ein Rechtssystem und Vorgangsweisen zu stützen, die sie für allgemein gültig, unfehlbar und Höhepunkte der Zivilisation erachten. Alle, die aus einem Land des Nordens kommen, können solche Dinge betreiben. Sie studieren ein paar Monate, lesen ein paar Bücher und werden ins Feld geschickt, um Afrikaner anzuklagen, einzusperren und zu bestrafen. Keiner von ihnen spricht oder versteht eine afrikanische Sprache. Das macht anscheinend kaum etwas aus, da sie die „Zivilisation“ mit der Muttermilch in sich aufgenommen haben. 

Andererseits verhalten sich und reden Apologeten des internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda, als wäre Afrika völlig verschieden. Die Afrikaner sind nicht wie wir, sagen sie. Sie haben keine demokratische Kultur, keine Kultur der Rechtsstaatlichkeit. Es herrscht die Kultur der Straffreiheit. Kurz gesagt, sie sind nicht zivilisiert wie wir, daher haben wir die Pflicht, auf einen Prozess nach rechtsstaatlichen Prinzipien und auf die Einhaltung des Gesetzes zu verzichten, aber natürlich im Namen der Gerechtigkeit und Freiheit, über die wir alle einer Meinung sind.

„Betrachtet man die Verfahren genauer, so weisen sie alle die Fallen von kolonialer Herrschaft, europäischer Herrschaft, des europäischen Systems auf,“ stellt Ramsey Clark fest. „Wenn man Bilder kolonialer Gerichte auf höherer Ebene und dieses Tribunals genauer anschaut und analysiert, findet man nicht viele Unterschiede zwischen den beiden. Und in jedem signifikanten Aspekt, mit Ausnahme von einigen der Richter, die zwar Afrikaner, aber ausschließlich in westlichem Recht ausgebildet sind, wird man erkennen, dass Vorgangsweisen, Struktur und Ergebnisse die Fortsetzung des kolonialen Rechts sind, das unter neuen Umständen ausgeübt wird. Ich glaube nicht, dass sie sich selbst zum Narren halten, sie wissen, was sie tun.“ 

Die koloniale Mentalität, die diese Operationen durchzieht, ist unverfroren und schamlos. Ruanda richtete auch Gerichte ein, allerdings mit wenig Erfolg, um Verfahren gegen die 150.000 Gefangenen durchzuführen, die nahezu zehn Jahre lang in kleinen Gefängnissen zusammengepfercht worden waren. Nachdem Paul Kagame und die RPF die Macht übernommen hatten, war das Justizministerium ein heilloses Durcheinander. Die meisten Bediensteten, Anwälte und Richter befanden sich im Exil oder saßen selbst im Gefängnis. Eine große Anzahl von Leuten musste eingeschult werden, um Verantwortung für das Justizsystem zu übernehmen. Kanadier, Belgier und Amerikaner nutzten daher bereitwillig die Gelegenheit, ein Programm für die Anwerbung und Ausbildung ruandischer Juristen zu entwickeln. Es war wichtig den Nachweis zu erbringen, dass diese Länder recht daran getan hatten, die RPF zu unterstützen. 

William Schabas, einer der Autoren des im Januar 1993 erstellten „Menschenrechtsberichts“ (s. Kapitel 4), leitete das Ausbildungsprogramm. Um aufgenommen zu werden, mussten Kandidaten einen kurzen Fragebogen beantworten, der von den Kanadiern erstellt worden war. Der Fragebogen enthielt die folgenden Fragen:

>  Wie heißt die Hauptstadt von Kanada?

>  Jean-Paul Sartre ist der Autor von (a) Das zweite Geschlecht (b) Der Außenseiter (c) Sein und Nichtsein.

>  Der Verfasser von Die Republik ist (a) Plato (b) Aristoteles (c) Euripides. 123

Eine eurozentristischere Auswahl von Fragen wäre schwer zu finden. 

Hier ein bescheidener Vorschlag. Alle Anwälte, Richter, Beamten, Offiziere, oder wer sonst sich um Arbeit bei internationalen Institutionen in Afrika bewirbt, oder im eigenen Land, um bei der Sache zu bleiben, muss folgende Fragen beantworten, damit die Bewerbung angenommen wird:

>  Wie heißt die Hauptstadt von Zambia?

>  Ferdinand Oyono verfasste: (a) God’s Bits of Wood (b) Ambiguous Adventure (c) Houseboy?

> In welcher Periode der afrikanischen Geschichte war Sundjata ein Führer: (a) 16. Jahrhundert (b) 13. Jahrhundert (c) 19. Jahrhundert?

> Welches heutige Land trägt den Namen des Königreichs, das von Sundjata geführt wurde: (a) Ghana (b) Ruanda (c) Mali?

 


 

115 Interview mit Ramsey Clark, New York, 12. September 2002.

116 Richterin Louise Arbour weigerte sich, mir ein Interview zu geben. Gemeinsam mit einigen Journalisten schaffte ich es dann doch, ihr Fragen in einer öffentlichen Veranstaltung am 21. November 2002 in Paris zu stellen, auf der sie einen Vortrag über den internationale Strafgerichtshof für Ruanda hielt.

117 Interview mit Boutros Boutros-Ghali, Paris, 21. November 2002.

118 Richard J. Godstone, For Humanity. Reflections of a War Crimes Investigator, New Haven and London, Yale University Press, 2000. Interessanterweise enthält das Buch ein Vorwort von Sandra Day O’Connor, Richterin am US Supreme Court, einer Republikanerin des rechten Flügels in der Tradition von Barry Goldwater und Pat Buchanan.

119 Ibid. p. 137.

120 Le Monde, December 15, 1997, p. 2.

121 Pierre Duclos, der an der Fälschung von Beweisen in der Matticks Affäre beteiligt war, war auch Mitglied des Teams, das die Operation NAKI im Juli 1997 ausführte. Er wird ernsthaft angefochten von den Gefangenen, die ihn beschuldigen, mit den gleichen Methoden auch in ihren Fällen "Tatsachen" geschaffen zu haben. (Besonders erwähnt werden sollen die Fälle des ehemaligen Premierministers Jean Kambanda und Alfred Musema.) Siehe auch den vernichtenden Bericht von Amnesty International über NAKI und die traurige Inhaftierung von Esdras Twagirimana: International Criminal Tribunal for Rwanda, Trials and Tribulations, Amnesty International, 1st April 1998. (web.amnesty.org). Seine Gefangenschaft hindurch verlangte Esdras Twagirimana den Beistand des Montrealer Anwalts Tiphaine Dickson, der in Arusha und vom internationalen Strafgerichtshof für Ruanda zugelassen war.

122 Carol Off, The Lion, the Fox and the Eagle, Vintage Canada, 2001, s. 320. Da von Frau Arbour selbst kein Interview zu bekommen war, war es notwendig, sich mit Werken zu beschäftigen, deren Autoren sie gnädigerweise zu treffen bereit war.

123 Carol Off, op. cit. s. 333.

 
     
 
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