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Robin Philpot | ||||||||||||||||||||||
Ruanda 1994 - die inszenierte Tragödie | ||||||||||||||||||||||
Einleitung
Bis die Löwen ihre eigenen
Geschichtsschreiber hervorbringen, wird die Geschichte
der Jagd nur den Jäger verherrlichen Afrikanisches Sprichwort Den Völkermord in Ruanda haben zu
100% die Vereinigten Staaten von Amerika zu
verantworten! Das sagte nicht ein ausgegrenzter
politischer Führer wie Robert Mugabe oder Fidel Castro.
Das sind auch nicht die Worte eines nostalgischen
afrikanischen Aktivisten, der den Fall der Sowjetunion
betrauert. Der ehemalige Generalsekretär der UNO Boutros
Boutros-Ghali sagte das im Juli 1998 und wiederholte es
mir gegenüber im November 2002. Leute im Weißen Haus
beliebten Boutros-Ghali Booboo Ghali oder
Frenchie zu nennen, vor und während seiner
Entlassung aus der UNO, betrieben von Madeleine Albright,
der damaligen UNO-Botschafterin der Vereinigten Staaten
von Amerika, die gegen seine Wiederwahl am 19. November
1996 ihr Veto einlegte. Seine Analyse widerspricht allen Klischees
und gängigen Auffassungen betreffend die Katastrophe in
Ruanda, die sich weit über die Grenzen dieses kleinen
afrikanischen Landes hinaus ausgewirkt hat. Die
Geschichte von Ruanda ist dermaßen durchsetzt mit
Klischees und Vorurteilen, dass ein moderner
Flaubertianer daran gehen müsste, ein neues Wörterbuch
herauszugeben. Sein Leben lang wollte Flaubert ein
Lexikon all dessen zusammenstellen, was in guter
Gesellschaft für richtig und angemessen befunden werden
sollte und besonders die Dinge loben, in denen die
richtig Denkenden übereinstimmen. Was sollte etwa über
Ruanda auf Cocktailparties in Europa und Nordamerika
gesagt werden was Boutros-Ghali offenbar nicht
gesagt hat um der Denkweise der richtig Denkenden
zu entsprechen? Wenn in solchen Gesellschaften Ruanda
erwähnt wird, können Sie sicher sein, einige oder alle
der folgenden Argumente zu hören: · Ruanda ist ein
schönes kleines Land, gelegen auf einem Hochland im
Herzen des Dunklen Kontinents Afrika, wo schreckliche
Hutu -Massenmörder eine Million wehrloser Tutsis
ermordet haben, nachdem ein afrikanischer Diktator bei
einem Flugzeugabsturz am 6. April 1994 ums Leben gekommen
war. · Die UNO und die
internationale Staatengemeinschaft waren hoffnungslos
überfordert und konnten nicht rechtzeitig reagieren,
trotz der klaren Warnung, die per Fax am 11. Januar 1994
vom tapferen kanadischen General Roméo Dallaire gesendet
worden war und trotz der zahlreichen Warnungen seitens
engagierter und neutraler Menschenrechtsarbeiter. · In einem vorhersehbaren
Wiederaufflackern seiner schändlichen kolonialistischen
Vergangenheit beeilte sich Frankreich, seine Armee zur
Rettung der Massenmörder und Diktatoren im Rahmen der
Operation Turquoise zu entsenden. · Die Ruandische
Patriotische Front (RPF) unter Führung des brillanten
militärisch-politischen Strategen Paul Kagame, jetzt
Präsident von Ruanda, beendete den Massenmord am 4. Juli
1994 mit dem Einmarsch nach Kigali und übernahm die
Macht am 19. Juli 1994. · Unter dem Druck
unabhängiger nicht-staatlicher Menschenrechtsgruppen und
im Licht der von diesen verbreiteten glaubwürdigen
Information kam die internationale Staatengemeinschaft
wieder zu Sinnen, richtete den Internationalen
Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) ein, verhaftete die
blutrünstigen Massenmörder, erhob Anklage und stellte
die führenden Köpfe vor das Gericht in Arusha, wobei
besonderer Dank der kanadischen Anklägerin Louise Arbour
gebührt, die es später zur Richterin am Obersten
Gerichtshof in Kanada und dann zur Leiterin der
UNO-Menschenrechtskommission brachte. · In dankenswerter Weise
wurde nach all den Jahrhunderten, in denen Vergewaltigung
als Waffe in Krieg und Beherrschung eingesetzt worden
war, ein Mann endlich von einem internationalen Gericht
der Vergewaltigung als Verbrechen gegen die
Menschlichkeit überführt. Dafür und für weitere
Verbrechen gegen die Menschlichkeit verbüßt der Rohling
jetzt eine lebenslange Freiheitsstrafe in einem
Gefängnis in Mali. · Die Massenmörder
flohen aus Ruanda und afrikanische Diktatoren in der
Region gewährten ihnen weiterhin Unterstützung.
Daraufhin führte Ruanda zu Recht einen defensiven
Angriffskrieg im benachbarten Kongo, der bis heute
andauert. Nichtsdestotrotz kam die internationale
Staatengemeinschaft dank dem kanadischen Premierminister
Jean Chrétien, seinem Neffen Botschafter Raymond
Chrétien und dem kanadischen General Maurice Baril den
ruandischen Flüchtlingen zu Hilfe, retteten sie vor den
Massenmördern und ermöglichte ihnen die freie Rückkehr
in ihr Land. Nachdem aber einige die Rückkehr
verweigerten, war Ruanda weiterhin berechtigt, seinen
defensiven Angriffskrieg zu führen. Unglücklicherweise
wurden bis jetzt über vier Millionen Menschen getötet. · Im Namen der
internationalen Staatengemeinschaft entschuldigten sich
Präsident William Jefferson Clinton und seine
Außenministerin Madeleine Albright für ihre und unsere
zurückhaltende Reaktion während des Völkermordes und
versprachen, nie wieder solche Verbrechen zuzulassen. Wer hat nicht Geschichten dieser Art
gelesen oder gehört? Ist es möglich, dass es sich dabei
um reine Klischees oder gängige falsche Vorstellungen
handelt? Liegt die Wahrheit ganz woanders? Hatte Boutros
Boutros-Ghali recht, als er eine Ecke des sehr
gewichtigen Felsens amerikanischer Verantwortung aufhob,
um zu sehen, was darunter liegt? Das Problem der ruandischen Tragödie
liegt darin, dass niemand hinzusehen wagt. Es ist wie in
der Geschichte von Blaubart, der honigsüß seiner Frau
die Schlüssel zu seinem Schloss übergibt, sie aber
davor warnt, eine bestimmte Tür zu öffnen. Im Gegensatz
zu Blaubarts Frau haben wir alle dem Tyrannen
gehorcht. Ziel dieses Buches ist es, nicht zu
gehorchen und den oder die Schlüssel zu benützen, um
die Tür zu öffnen und herauszufinden, was dahinter
liegt. Viel Papier wurde vollgeschrieben über Ruanda und
die afrikanische Region der Großen Seen. In den Regalen
von Büchereien und Buchhandlungen füllen sie Meter,
aber mit Ausnahme von einigen Feinheiten besagen alle
diese Bücher und Berichte das Gleiche. Oft werden bei einhellig akzeptierten
Meinungen Abweichungen nicht geduldet, Hinweise auf
sachliche Mängel und Irrtümer werden einfach übertönt
und entscheidend wichtige Ereignisse werden verschwiegen.
Im Fall von Ruanda finden wir eine Mischung aus einer
beschämenden Unterwürfigkeit vor den Machthabern dieser
Welt und einer abgrundtiefen Verachtung Afrikas. Die Einhelligkeit beginnt bei der
großzügigen und missbräuchlichen Verwendung des
Begriffs Genozid und der damit
zusammenhängenden Begriffe. Die Entwicklung bis zu
seiner weit verbreiteten Verwendung sagt uns mehr über
Ziele und Politik der großen Mächte und Kriegsparteien
als über das Verbrechen selbst. Der Begriff ist Knüppel
und Knebel für Millionen Ruander. Seine weitere
gedankenlose Verwendung wird mehr zur Verlängerung des
Krieges beitragen als zur Durchsetzung des Rechts. Das betäubendste Schweigen betrifft den
schlimmsten terroristischen Akt der 1990er Jahre,
nämlich die Ermordung von Präsident Juvénal
Habyarimana von Ruanda und Präsident Cyprien Ntaryamira
von Burundi am 6. April 1994. Diese tragische Ermordung
von zwei afrikanischen Staatsoberhäuptern wurde im
offiziellen internationalen Neusprech zum
Flugzeugabsturz. Warum haben Louise Arbour, Kofi Annan,
Madeleine Albright und ihre Vorgesetzten von Jean
Chrétien bis Tony Blair, Bill Clinton und George W. Bush
nicht darauf bestanden, dass die Mörder überführt und
vor Gericht gestellt werden sollten? Immerhin hat die
internationale Staatengemeinschaft das am 7.
April 1994 feierlich versprochen. Die Antwort ist
augenfällig: jede ernsthafte Untersuchung dieses Mordes
würde das Gedankengebilde zerstören, das so sorgsam
errichtet worden ist, um die ruandische Tragödie zu
erklären. Nicht weniger erstaunlich ist das
Schweigen über dreieinhalb Jahre Krieg in Ruanda,
beginnend mit dem Einmarsch ugandischer Truppen am 1.
Oktober 1990, der zur Ermordung der beiden Präsidenten
geführt hat. Diesem Krieg folgten weitere Kriege, die
alle benachbarten Länder beeinträchtigt und
terrorisiert haben, vor allem die Demokratische Republik
Kongo. Die Sieger des ruandischen Krieges, die Ruandische
Patriotische Front (RPF) waren die Hauptaggressoren gegen
den Kongo. Außerdem sind sie die standhaften
Verbündeten der Vereinigten Staaten von Amerika und des
Vereinigten Königreichs Präsident Paul Kagame
hat als erstes afrikanisches Staatsoberhaupt den
Überfall auf den Irak unterstützt. Auch die genaue
Untersuchung des Krieges, den die RPF von 1990 bis 1994
und danach geführt hat, würde die offizielle Geschichte
wirkungsvoll erschüttern. Seit 1989 ist die Macht auf der Welt wie
nie zuvor in den Händen eines einzigen Landes
konzentriert. Man würde erwarten, dass mit dem Fall der
Sowjetunion die Kritik am amerikanischen
Imperialismus schärfer und stärker geworden wäre
und dass mehr Menschen Informationen sammeln und
Interessen, Desinformation, Manipulation und geheime
Aktivitäten dieser Supermacht aufzeigen würden. Was
Ruanda betrifft, ist das sicher nicht der Fall. Während Frankreich zweifelhafter Motive
und schlimmster Sünden bezichtigt worden ist, haben die
Vereinigten Staaten von Amerika und ihre treuen Kumpane,
in erster Linie Kanada und das Vereinigte Königreich
diese Geschichte nahezu unversehrt überstanden und
suhlen sich im Anschein moralischer Überlegenheit und
Ehrlichkeit.
Wie bei allen Ländern gibt auch die
komplexe Geschichte Ruandas Anlass zu vielen
Diskussionen. Zusammenfassungen der ruandischen
Geschichte in den in letzter Zeit veröffentlichten
Büchern sind unweigerlich gefärbt entsprechend den
eigenen Positionen der Autoren zur Tragödie 1994. In
diesem Buch wird es sehr wenige Hinweise auf die
ruandische Geschichte geben. Nicht, weil die ruandische
Geschichte uninteressant oder unwichtig wäre, sondern
weil die Urheber der offiziellen Geschichtsschreibung der
Tragödie der jüngsten Vergangenheit die ruandische
Geschichte bzw. ihre eigene Version von dieser dazu
benützen, die tatsächlichen Ursachen zu verschleiern
und dadurch die wahren Verbrecher schützen. Diese
Autoren erklären die Ereignisse von 1994 unweigerlich
mit Hinweisen auf Aspekte der ruandischen Geschichte, die
sie absichtlich als finster und unheilschwanger in
Hinblick auf künftige traurige Ereignisse präsentieren.
Sie erwecken den Eindruck, als könne die Entwicklung zum
Genozid ausschließlich in der Geschichte
Ruandas verfolgt werden und als seien keine anderen
Kräfte im Spiel gewesen. Eine unparteiische Übersicht über
Geschichte, Geografie und Demografie Ruandas ist dessen
ungeachtet sehr hilfreich. Unter den als objektiv
bekannten Büchern ist das umfassende Werk von René
Lemarchand, veröffentlicht 1970 in Ruanda und Burundi
(Pall Mall Press, London). Ehe die Europäer ankamen, war Ruanda ein
feudales Königreich unter der Herrschaft der
Tutsi-Minderheit (Batutsi). Die Tutsis waren
hauptsächlich Viehzüchter. Verehrung des Königs und
Dichtkunst standen bei den Tutsis in hohem Ansehen,
während sie den Ackerbau verachteten. Die Hutu-Mehrheit
(Bahutu) bestand zum Großteil aus Bauern, die das Land
bearbeiteten und der Tutsi-Aristokratie dienten, der sie
Treue und Abgaben schuldeten. Nach der Berliner Konferenz 1885 und dem
europäischen Gedränge um Afrika kamen Ruanda und
Burundi unter deutsche Herrschaft, wurden aber indirekt
durch die Könige regiert, die als Mwamis bekannt sind.
Deutschland beherrschte auch das heutige Tansania,
allerdings direkter als Kolonie bis zum Ende der Ersten
Weltkriegs 1918. Als die Siegermächte die deutschen
Besitztümer aufteilten, bekam Belgien Ruanda und
Burundi. Belgien regierte Ruanda und Burundi durch die
beiden Könige (Mwamis), beide Tutsis, wodurch die
Spaltung zwischen Tutsis und Hutus verschlimmert wurde,
wobei letztere über 80% der Bevölkerung ausmachten.
Wirtschaftlich wurden Ruanda und Burundi in Belgisch
Kongo integriert, dessen damalige Hauptstadt
Léopoldville 1971 in Kinshasa umbenannt wurde. 1956 organisierten die Belgier Wahlen,
welche die feudale und monarchistische Ordnung
erschütterten. In Ruanda revoltierte die Hutu-Mehrheit
gegen die Tutsi-Aristokratie im November 1959. Viele
Tutsis flohen in Nachbarländer einschließlich Uganda,
während andere getötet wurden. Diese soziale Revolution
führte zu einem unter Führung der UNO abgehaltenen
Referendum im September 1961, zur Unabhängigkeit Ruandas
am 1. Juli 1962 und zur Aufteilung von Land unter
Hutu-Bauern. Der ruandische Mwami (Kigeri V) floh vor
der Unabhängigkeit. Ruanda wurde eine Republik und
Grégoire Kayibanda, der Anführer der Parmehutu Partei
wurde der erste Präsident. Burundi blieb nach der
Unabhängigkeit Monarchie und die Schlüsselpositionen
der Macht wurden weiterhin von Vertretern der
Tutsi-Minderheit besetzt, besonders in der burundischen
Armee. Zwischen 1960 und 1967 unternahmen
Tutsi-Flüchtlinge, die sich selbst als Inyenzi
bezeichnen (Vertreter der offiziellen
Geschichtsschreibung haben diesen Ausdruck ausgiebig und
in unehrlicher Weise missbraucht. In seinem 1970
erschienenen Standardwerk Rwanda and Burundi
definiert René Lemarchand inyenzi
folgendermaßen: der Begriff Inyenzi wird
zur Zeit innerhalb wie außerhalb Ruandas verwendet als
Bezeichnung für kleine Freischärlergruppen unter
Tutsi-Führung, die außerhalb Ruandas ausgebildet und
organisiert werden und in der Größe zwischen rund sechs
bis zehn Mann variieren ... wörtlich bedeutet es
Küchenschaben.), viele gewalttätige Angriffe
gegen die neue ruandische Regierung geführt, wurden aber
immer wieder zurückgeschlagen. Jede Attacke führte zu
Rachemorden in Ruanda. 1972 wurde Burundi durch
ernsthafte Probleme erschüttert. Die von Tutsis
dominierte burundische Armee tötete über 100.000 Hutus
und viele mehr flohen nach Ruanda. Kurz danach, am 5.
Juli 1973, stürzten hohe Offiziere der ruandischen
Nationalgarde Präsident Kayibanda. Ihr Anführer
Generalmajor Juvénal Habyarimana wurde neuer Präsident.
Die nach Revolution und Unabhängigkeit in Ruanda
verbliebene Tutsi-Elite unterstützte den neuen
Präsidenten Habyarimana. Von 1973 bis 1990 lebte Ruanda relativ
friedlich und prosperierend. Es wurde als ein Modell für
wirtschaftliche Entwicklung betrachtet und oft von
Weltbank und Internationalem Währungsfonds als Beispiel
hingestellt. Das Problem der Tutsi-Flüchtlinge konnte
allerdings nicht zufriedenstellend gelöst werden. Es
wurde dann auch von höheren Offizieren der ugandischen
Armee, darunter viele Tutsis, die in Uganda geboren waren
oder dort seit 1959 lebten, zum Vorwand genommen, am 1.
Oktober 1990 in Ruanda einzumarschieren. Die Regierung
und die weitaus überwiegende Mehrheit der Bevölkerung
von Ruanda betrachteten diesen Einmarsch als
Konterrevolution, welche die Tutsi-Aristokratie wieder an
die Macht bringen sollte. Dieses Buch handelt
hauptsächlich von den Ereignissen nach 1990. Ruanda ist eines der am dichtest
besiedelten Länder der Erde. Im April 1994 hatte es
7,600.000 Einwohner, 85 90% davon Hutus. Die
Fläche Ruandas beträgt 26.340 km², etwa die Größe
von Vermont, das ca. 550.000 Einwohner hat.
Einige Worte sind angebracht, um zu
erklären, woher dieses Buch kommt. Obwohl Montreal seit
1974 meine Heimat ist, kam ich dorthin nicht von Ontario,
wo ich geboren bin, sondern von Ougadougou, der
Hauptstadt von Burkina Faso. Noch genauer ich kam
von Koudougou, etwa 100 km westlich von Ougadougou, wo
ich zwei Jahre gewohnt und Englisch und Geschichte
unterrichtet hatte. Vor, während und nach meinem
Aufenthalt in Koudougou hatte ich das Glück, in fast
allen westafrikanischen Ländern zu reisen und zu
bleiben, von Mauretanien bis Kamerun, und meinem
Interesse für afrikanische Geschichte nachzugehen, die
ich an der Universität von Toronto studiert hatte.
Dass ich mich in Montreal, Quebec
niedergelassen habe ist kein Zufall. Aus einem
französisch sprechenden Land in einer französisch
sprechenden Region Afrikas in ein anderes französisch
sprechendes Land Québec zu kommen, war
ganz natürlich. Außer der Sprache gab es auch
politische Ähnlichkeiten. Die afrikanische
Unabhängigkeit war bei den Afrikanern noch in frischer
Erinnerung, und die vielen Quebecer in Afrika redeten
damals viel über Unabhängigkeit und kanadischen
Kolonialismus in Québec. In Bamako, Mali, und nicht in Toronto oder
Thunder Bay in Kanada hörte ich zum ersten Mal Musik des
Quebecer Dichters und Sängers Gilles Vigneault. In
N´dhamena, Tschad (früher Fort Lamy) lernte ich, wer
Félix Leclerc war. In Koudougou las ich Les nègres
blancs dAmérique (White Niggers of America)
und entdeckte die Bedeutung des 24. Juni für die
Quebecer. Zur gleichen Zeit und gleich begeistert stieß
ich in Yaounde, Kamerun, auf Une vie de boy (Houseboy)
von Ferdinand Oyono. In Dakar lernte ich, wer eigentlich
Léopold Sédar Senghor war und las Sembène
Ousmans Gods Bits of Wood, und in
Nigeria las ich Chinua Achebes Things Fall
Apart. Meine persönliche Geschichte erwähne
ich, um die Verbindung zwischen diesem Buch und meinem
Engagement für die Unabhängigkeit Quebecs aufzuzeigen,
die in meinem früheren Buch Oka: dernier alibi du
Canada anglais (Oka: English Canadas Latest
Excuse), das 1991 erschienen ist. 1 Obwohl
scheinbar kein Zusammenhang zwischen den beiden Büchern
besteht, wenden sich beide gegen allgemein akzeptierte
und blind geglaubte Auffassungen, die auf Vorurteilen und
versteckten politischen Hintergedanken beruhen. Darüber
hinaus könnte meine persönliche Laufbahn sowie auch die
von anderen, die sich entlang der wunderbaren Verbindung
bewegen, welche die französische Sprache vorgibt,
Skeptiker in einer Zeit überzeugen, in der in Zweifel
gezogen wird, dass die Francophonie eine sehr
wichtige internationale Einrichtung ist und weiterhin
bleiben sollte. Interesse an Afrika und besonders am
französisch sprechenden Afrika brachte mich dazu, die
Ereignisse in Ruanda in den frühen 90er Jahren sehr
genau zu verfolgen. Nach einem Treffen mit Ruandern auf
einer Demonstration veröffentlichte ich im September
1994 in der Montrealer Tageszeitung La Presse
einen Artikel, in dem ich das damals von Ed Broadbent
geleitete International Centre for Human Rights and
Democratic Development (Internationales Zentrum für
Menschenrechte und Demokratische Entwicklung)
kritisierte. 2 Dieser Artikel löste eine
Polemik aus, weil er diese und andere Organisationen
beschuldigte, in ihrem im März 1993 nach einem
15tägigen Aufenthalt veröffentlichten Bericht Werbung
für die Invasionsarmee der Ruandischen Patriotischen
Front RPF zu machen. Weiters zeigte der Artikel auf, dass
der Bericht und die damit verbundene Medienkampagne den
Konflikt verschlimmerten. (Mehr darüber in Kapitel
4.) Nach Erscheinen dieses Artikels und nach
der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs
für Ruanda im November 1994 durch den UN Sicherheitsrat,
interessierte sich mein Bruder John Philpot, Rechtsanwalt
in Montreal, ernsthaft für die Tragödie in Ruanda und
besonders für die Leute, die wegen Genozids angeklagt
und eingesperrt waren. Er veröffentlichte eine wichtige
Kritik am Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda,
angesiedelt in Arusha, Tansania 3, und wurde
zum Rechtsbeistand für einen Ruander beim
Berufungsgericht in Den Haag bestellt. Andere bekannte
Anwälte in Quebec, Kanada und den Vereinigten Staaten
von Amerika entwickelten daraufhin Interesse und
übernahmen ebenfalls Vertretungen von ruandischen
Gefangenen in Arusha. Diese Anwälte und ihre gefangenen
Klienten sind mit einer entmutigenden Herausforderung
konfrontiert. Zuerst und vor allem müssen sie die
Richter überzeugen, dass es eine andere Version der
Abläufe gibt als die, die Flaubert als richtig und
angemessen bezeichnet hätte. Wie alle Tribunale
ist auch das Arusha-Tribunal, Richter und so weiter,
durch eine internationale öffentliche Meinung
voreingenommen, die mehr oder weniger sicher stellt, dass
die richtige und angemessene Geschichte ihren
Entscheidungen zu Grunde gelegt wird. Wenn es dieses Buch schafft, diese
simplifizierende und einfältige Geschichte in Zweifel zu
ziehen und die diesbezügliche öffentliche Meinung zu
erschüttern, wird es die Mühe wert gewesen sein. Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit
selten diskutierten Ereignissen, die Ruanda an den Rand
der Katastrophe gebracht haben, ehe die Präsidenten
Habyarimana und Ntaryamira am 6. April 1994 ermordet
wurden. Zuerst kam im Oktober 1990 der Einmarsch in
Ruanda durch einen Teil der ugandischen Armee, die dieses
Land für die folgenden dreieinhalb Jahre mit einem
tödlichen Krieg überzog. Während diese Armee den Krieg
gegen Ruanda führte, betrieben ausländische Mächte die
Einführung eines Mehrparteiensystems, das es Regierung
und Armee von Ruanda praktisch unmöglich machte, die
Eindringlinge wirkungsvoll zu bekämpfen. Die gleichen
ausländischen Mächte unter Führung der Vereinigten
Staaten von Amerika, die sich selbst als internationale
Staatengemeinschaft bezeichneten, setzten einen
sogenannten Friedensprozess in Gang, der die Übertragung
der Macht an die Invasoren zur Folge hatte. NGOs
(Nichtregierungsorganisationen) begannen mit
der Verleumdung von Ruanda, seiner Führung und seiner
gesamten jüngeren Geschichte. In wirksamer Weise wurden
sie zu einer Katzenpfote für die Invasorenarmee und
amerikanische und britische Interessen in Zentralafrika. Dieser Abschnitt untersucht auch, wie und
warum die Ermordung von zwei afrikanischen
Staatsoberhäuptern durch eine gewaltige
Verschleierungsoperation verharmlost worden ist. Wem hat
diese Vertuschung gedient? Der Abschnitt endet mit einer
Studie darüber, was genau die Vereinigten Staaten von
Amerika zwischen 6. April und 19. Juli 1994 getan bzw.
nicht getan haben, als so viele Menschen in Ruanda
ermordet worden sind. Man wird sehen, dass sich die
einzige Supermacht auf der Erde wenig um die Anzahl der
Toten in Ruanda kümmerte. Washingtons dringendstes
Anliegen war es, dass seine Ruandische Patriotische Front
RPF den entscheidenden Sieg in diesem Krieg errang
es dauerte viel länger als erwartet und
Frankreich aus diesem Teil Afrikas hinausgeworfen
wurde. Was ist mit dem Genozid/Völkermord? Was
mit den Massakern? Jeder hat diese Bilder gesehen, die
Macheten, die Leichen und Skelette. Niemand kann
behaupten, dass diese Dinge nicht stattgefunden haben.
Natürlich nicht! Außer dass die Vereinfachung der
ruandischen Tragödie zu einer Geschichte, in der
schreckliche Hutu-Genozidäre mit Hilfe und
Unterstützung Frankreichs unschuldige Tutsis
massakriert haben, die Ursachen verschleiert und die
wirklichen Verbrecher schützt. Ruanda hat eine
furchtbare menschliche Katastrophe erlitten. Wie andere
derartige Katastrophen hatte auch diese politische
Gründe. Jede seriöse Analyse wird eindeutig ergeben,
dass die nach dem Gut gegen Böse-Schema gestrickte
Geschichte ausgehend von westlichen Vorstellungen für
die westliche öffentliche Meinung entwickelt worden ist.
Die Tatsache, dass sie so einfach übernommen worden ist,
zeugt von unserer blinden Unterwürfigkeit gegenüber der
Macht und von unserer historischen Verachtung gegenüber
Afrika. Namen müssen genannt werden. Jedes
westliche Land rühmt sich seines Journalisten, seines
Schriftstellers, seines Menschenrechtsaktivisten oder
Anthropologen, der sich vorgedrängt hat, um die richtige
und angemessene Geschichte zu erzählen. Pablo Neruda hat
ihn oder sie sehr gut beschrieben: Es
ist der herumschleichende Feigling, angeheuert, um
schmutzige Hände zu loben. Es ist ein Prediger oder
Journalist. Plötzlich taucht er auf im Palast, wo er
eifrig des Herrschers Ausscheidungen wiederkäut. 4
Sein Name ist Philip Gourevitch oder Alison Des Forges in
den Vereinigten Staaten von Amerika, Carol Off oder
William Schabas in Kanada, Gil Courtemanche in Quebec,
Linda Melverne im Vereinigten Königreich, Colette
Braeckman oder Alain Destexhe in Belgien, Gérard Prunier
oder Jean-Pierre Chrétien in Frankreich. Der zweite Abschnitt beleuchtet, wie die
Geschichte ihre Wurzeln in Büchern und anderen
Publikationen geschlagen hat. Wissentlich oder nicht
haben Autoren von Büchern über Ruanda ihr Material aus
einer populären literarischen Tradition über Afrika
bezogen. Diese Tradition wimmelt von Metaphern, Bildern
und Gemeinplätzen aus einer Zeit, in der Europa
Afrikaner versklavt und gehandelt und den Kontinent
kolonialisiert hat. Diese Metaphern, Bilder und
Gemeinplätze haben alles mit europäischen Vorstellungen
und fast nichts mit der afrikanischen Wirklichkeit zu
tun. Sie sind entwickelt worden, um das ganz und gar
Unrechtmäßige zu legitimieren, nämlich Sklaverei,
Sklavenhandel und Europas Beherrschung und
Kolonialisierung von Afrika. Je öfter sie wiederholt
werden, desto mehr werden sie selbst zur Botschaft der
Werke, in denen sie erscheinen. Vier Bücher über Ruanda von vier
verschiedenen Autoren werden untersucht, nicht nur um zu
zeigen, dass das so in Ruanda nicht geschehen
ist, sondern auch und besonders, dass das
so in Ruanda nicht geschehen sein kann. Die
Autoren sind der Amerikaner Philip Gourevitch, die
Kanadierin Carol Off, der Quebecer Gil Courtemanche und
die Belgierin Colette Braeckman. Alle vier haben dazu
beigetragen, die richtige und angemessene
Geschichte zu schreiben. Wissentlich oder nicht
sind sie alle vier Produkte einer kolonialistischen
Mentalität, die sich leider immer mehr breit macht. Der letzte Abschnitt untersucht die Arbeit
des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda,
besonders den Fall Jean-Paul Akayesu, der als erster
Mensch des Genozids und der Vergewaltigung als
Kriegsverbrechen für schuldig befunden worden ist.
Jean-Paul Akayesu hat immer seine Unschuld betont und,
was mehr zählt, solide Beweise für die Fälschung von
Beweisen, die von der Anklage dem Tribunal vorgelegt
worden sind. Chefanklägerin war Louise Arbour, die dann
Richterin am kanadischen Obersten Gerichtshof wurde und
seit einiger Zeit den Vorsitz der UNO
Menschenrechtskommission innehat. Dieser Abschnitt behandelt auch die
Flüchtlingskrise im Jahr 1996 im Osten von Zaire, jetzt
Kongo. Er zeigt, wie die gleiche Ruandische Patriotische
Front RPF, die mit Hilfe der Vereinigten Staaten von
Amerika 1994 an die Macht gekommen war, die Geschichte
über die ruandische Tragödie, die durch den
Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda offiziell
gemacht worden war, als Rechtfertigung für den Einmarsch
in den Kongo verwendete. Washington nützte diese
Flüchtlingskrise aus, um Frankreich aus dem Kongo zu
vertreiben, einem Land, das wegen seiner natürlichen
Schätze begehrt ist. Dabei wurden die Vereinigten
Staaten von Amerika von ihren zuverlässigen Kumpanen in
Ottawa unterstützt. Die Chrétien-Regierung konnte es
kaum erwarten, die Rolle des antifranzösischen
proamerikanischen französischsprachigen Landes zu
spielen. In einem Interview in Paris gab Raymond
Chrétien, Jean Chrétiens Neffe und Botschafter in
Frankreich zu, dass die Operation im November 1996, an
der er als Sondergesandter des UNO Generalsekretärs
beteiligt war, mindestens eine Million Tote zur Folge
hatte! Der nicht enden wollende Krieg in Kongo
hat mit dieser Operation begonnen. Diese hat zum
Zusammenbruch dieses Landes und zum mörderischsten Krieg
seit 1945 geführt.
1 Robin Philpot, Oka: dernier alibli du
Canada anglais, VLB éditeur, 1991. 2 Ed Broadbent et la crise
rwandaise : un rapport préparé avec
insouciance La Presse, September 6, 1994, B3, (Ed
Broadbent and the reckless report on Rwanda) 3 John, PHILPOT, Le Tribunal
international pour le Rwanda, La justice trahie, in
Études internationales, vol. XXVII, No. 4 décembre
1996, Institut québécois des hautes études
internationales. 4 Pablo Neruda, Canto General,
translated by Jack Schmitt, University of California
Press, 1991, p. 169. |
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