HOME   INHALT   BLOG   INFO   LINKS   VIDEOS   ARCHIV   KONTAKT   ENGLISH
 
     
     
     
  Der Pressesprecher Muammar Gaddafis meldet sich zu Wort

Moussa Ibrahim sagt: Libyen wurde zerstört, weil westliche Staats- und Regierungschefs weiterhin den Reichtum Afrikas ausbeuten wollen

Angelika Gutsche

 

Auf RT Underground special gab Ibrahim Moussa, der ehemalige Pressesprecher von Muammar al-Gaddafi, nach langer Zeit des Schweigens am 6. Oktober dem Journalisten Afshin Rattansi in Berlin ein Interview (> LINK zu Teil 1).

 

Afshin Rattansi: Heute ist Moussa Ibrahim von der Grünen Widerstandsbewegung bei mir zu Gast. Er ist Direktor des Center for the African Unity Studies und als ehemaliger Pressesprecher von Muammar al-Gaddafi der ganzen Welt bekannt. Zunächst die Frage: Was waren Ihre Aufgaben als Sprecher von Gaddafi in diesem noch immer andauernden Krieg in einem Land, das einst das reichste von ganz Afrika war?

Moussa Ibrahim: 2011 wurde mein Land vom globalen Zentrum des imperialistischen Kapitalismus angegriffen, um das libysche Projekt der afrikanischen Einheit und afrikanischen Unabhängigkeit zu stoppen. Ich genoss das Privileg und die Ehre, zusammen mit tausenden jungen Libyern und Libyerinnen unser Land gegen diesen Angriff zu verteidigen. Ich war zum Sprecher der libyschen Regierung ernannt worden. Ich war damals die Stimme der libyschen Widerstandsbewegung und arbeitete eng mit meinen Kollegen und Kameraden zusammen, um der Welt die libysche Sicht der Dinge wissen zu lassen. Mehr als acht Monate führte ich mit internationalen Medienvertretern Gespräche. Während die Bomben fielen, gab ich täglich drei Pressekonferenzen. Aber ich war nicht alleine. Ich hatte die Unterstützung, die Liebe und die Kompetenz tausender junger Libyer an meiner Seite, Akademiker, Medienschaffende, Intellektuelle, die auch heute noch, nach acht Kriegsjahren sehr hart für die Befreiung des Landes und die Freiheit und Unabhängigkeit des libyschen Volkes arbeiten.

Frage: Weltweit wurden Sie von den Mainstreammedien als Lügner bezeichnet und als Sprachrohr eines Regimes, das Massenvergewaltigungen mit Hilfe von Viagra und anderen chemischen Hilfsmitteln zu politischen Zwecken einsetzt, das unbewaffnete Demonstranten massakriert und Zivilisten bombardiert.

Moussa Ibrahim: Nun, für jeden Standpunkt, den man vertritt, gibt es zwei Möglichkeiten, dessen Richtigkeit zu überprüfen: zum einen, dass der Standpunkt sinnvoll erklärt werden kann [power of explanation] und zum andern, dass die vorausgesagten Ereignisse auch wirklich eintreten [power of prophesy]. Bei beiden lagen wir richtig. Acht Jahre später hat sich bewahrheitet, dass alles, was wir für Libyen vorausgesehen hatten, tatsächlich eingetroffen ist. Wir sprachen damals von Terrorismus, Extremismus, Stammeskonflikten, vom westlichen imperialistischen Projekt, das Libyen seines Reichtums berauben würde. Wir sprachen davon, was noch geschehen würde: die Spaltung des Landes, der anhaltende Konflikt. Und wir hatten Recht damit. Ebenso damit, dass die gegen uns vorgebrachten Beschuldigungen falsch waren. Drei waren besonders schlimm. Ein Vorwurf lautete, wir hätten Luftangriffe auf libysche Städte geflogen. Diese Anschuldigung war falsch und hätte fast augenblicklich wiederlegt werden können, wenn die internationalen Medien ehrlich gewesen wären. Sie waren in Libyen vor Ort und Bombardierungen aus der Luft kann man nicht heimlich durchführen. Die zweite Anschuldigung behauptete eine Massenvergewaltigung von 8000 libyschen Frauen. Doch wo sind die Opfer? Unser Land wird seit acht Jahren vom westlichen Feind kontrolliert. Wo sind die Schuldsprüche? Und wo sind die Gerichtsverhandlungen? Nach acht Jahren konnten sie keinen einzigen Beweis für systematische Vergewaltigungen finden. Und drittens wurde uns unterstellt, während der ersten drei Tage der Proteste 10.000 unschuldige Demonstranten getötet zu haben. Doch wie lauten die Namen der Getöteten? Wo sind ihre Leichen? Sie konnten ganze 25 Personen finden, die während der ersten Tage der Proteste zu Tode kamen. Wir sagen, sie waren bewaffnet; sie sagen, das waren sie nicht. Wie auch immer, 25 Tote sind keine 10.000 Todesopfer.

Frage: Es ist sehr selten, dass man mit jemanden sprechen kann, der mit westlichen Mainstreammedien in der Zeit – wie Sie es ausdrücken – des imperialistischen Konflikts agierte. Wie war das für Sie als Regierungssprecher, es mit Journalisten zu tun zu haben, die sich selber sicherlich als unparteiisch sahen, und die beklagten, Sie würden als Teil der Pressezensur mauern?

Moussa Ibrahim: Nun, wir haben damals Libyen, den guten Teil von Libyen, geöffnet. Wir waren transparent. Wir erlaubten, dass jede noch so harte Frage gestellt werden konnte. Ich stand, ebenso wie die Regierungsbeamten, jeden Tag rund um die Uhr zur Verfügung. Wir haben kein einziges Mal gelogen. Wir sagten immer die Wahrheit, so wie sie sich uns darstellte. Und wir antworteten auf eine sehr transparente Art. Und wie ich sagte, die beiden Nagelproben, die der Sinnhaftigkeit [proof of explanation] und die der Richtigkeit des Vorhergesagten [proof of prophecy] wurden bestanden. Bei beidem lagen wir richtig. Und alles, was unsere Feinde sagten, hat sich als falsch erwiesen. Schauen Sie sich Libyen heute an, was es ist, vom Westen und von westlichen Agenten kontrolliert. Was ist in Libyen passiert? Libyen war eines der reichsten Länder in Afrika, über Jahrzehnte eines der stabilsten Länder in Afrika. Es führte die Befreiung Afrikas an. Libyen war der Kopf der Afrikanischen Union, des Afrikanisch-Europäischen-Gipfels, eines der führenden Länder bei der Entwicklung von afrikanischen Wirtschaftsprojekten wie der Afrikanischen Zentralbank, der Afrikanischen Organisation natürlicher Ressourcen, der Vereinigten Afrikanischen Armee, der afrikanischen goldbasierten Währung. Und schauen Sie sich Libyen heute an! Es ist ein Schlachtfeld für Extremisten, für die Austragung von Stammeskonflikten, für westliche Agenten, die Libyen seinen Reichtum, seine Freiheitsideale und seine Souveränität entreißen wollen.

Frage: Wenn dieser Vorwurf, dass tatsächlich falsche Kriegsgründe vorgeschoben worden waren, der Bevölkerung in den Nato-Staaten bekannt wäre ..., ich weiß, dass der Ausschuss des britischen Parlaments 2016 ... (> LINK)

Moussa Ibrahim: 2016 zog der mittels umfassender und guter Recherchen bestens informierte britische Parlamentsausschuss etliche Schlussfolgerungen. Aber in Bezug auf unser Gespräch ist am wichtigsten, dass sie sagten, dass die Beschuldigungen, die gegen das libysche Regime erhoben wurden, entweder weitgehend erfunden oder zumindest stark übertrieben waren. Und sie sagten, es hätten viele Möglichkeiten bestanden, den Krieg zu vermeiden und zu einer friedlichen Übereinkunft zu kommen, so wie wir sie von Anfang an gefordert hatten. Drei große Chancen gab es, die Zerstörung Libyens zu verhindern. Die erste wäre gewesen, eine internationale Fact-Finding-Mission durchzuführen, wie wir sie von Anfang an forderten. Ich glaube, diese Forderung habe ich monatelang, Tag für Tag, wiederholt. Wir boten sogar an, die Kosten für diese Fact-Finding-Mission zu übernehmen. Obwohl, statt der Kosten für eine Patriot-Rakete, die auf die Köpfe libyscher Kinder abgeworfen wurde, hätte auch leicht die Mission finanziert werden können. Niemand hörte auf uns. Wir boten auch den Einsatz einer afrikanischen Friedensmission an, um die Kämpfe sofort zu stoppen und den Weg frei zu machen für eine Nationalkonferenz, an der alle libyschen Parteien teilnehmen sollten, einschließlich der libyschen Regierung und der sogenannten Rebellen. Das wollte niemand hören. Die libyschen Stämme kamen bei der größten Stammeskonferenz, die jemals in der Geschichte Libyens stattgefunden hatte, zusammen. Tausende Delegierte nahmen daran teil und alle unterstützten die Regierungsinitiative, auch diejenigen, die auf Seiten der Rebellen standen. Aber der Westen war entschlossen, mit der Zerstörung Libyens fortzufahren. Dieser Plan stand von Anfang an fest.

Frage: Die damaligen Forderungen kann man auf youtube ansehen ebenso wie die berühmte Rede, die Gaddafi vor zehn Jahren am 23. September 2008 vor den Vereinten Nationen gehalten hat (> LINK). Was waren also die wahren Gründe? Warum sehen Sie sie als imperialistische Kriege? Was war der Grund für die Annahme der Grünen Widerstandsbewegung, dass die Nato-Staaten zwangsläufig Ihr Land zerstören würden?

Moussa Ibrahim: Zweifellos gab es in Libyen interne Gründe, Fehler, die im System begründet lagen. Es war notwendig geworden, das politische System, unser Wirtschaftssystem, umfassender und weniger zentralistisch auszurichten. Wir waren in den 70er, 80er und 90er Jahren erfolgreich, aber in den Vorkriegsjahren machten wir einige Fehler. Wir zentralisierten Teile der Wirtschaft, weil wir ein Entwicklungsprogramm verfolgten, dass sich von den vorherigen Jahren unterschied.

Aber ohne jeden Zweifel war dies nicht der Grund, warum es 2011 zu dieser Katastrophe kam. In Libyen gab es ein panafrikanisches Projekt, das die politische Freiheit, die wirtschaftliche Unabhängigkeit und den kulturellen Widerstand umfasste. Das war nicht bloß eine Idee oder ein Traum. Die Grundlage bildeten der jahrzehntelange Kampf der afrikanischen Nationen und die großartigen Erfahrungen, die große afrikanische Führern wie Patrice Lumumba, Kwame Kkrumah, Nasser und Nelson Mandela gesammelt hatten. Unser Plan war realistisch, nicht nur ein Traum. Gaddafi hatte realistische Pläne und richtige Projekte entwickelt. So sollten die natürlichen Ressourcen Afrikas unter der Kontrolle der Organisation für die natürlichen Ressourcen Afrikas stehen, die afrikanischen Armeen sollten zu einer Vereinigten Afrikanischen Armee werden und Gaddafi war dabei, die Mittel für eine Afrikanische Zentralbank zu beschafften und das Projekt mit anderen afrikanischen Führern abzusprechen.

Libyen ist ein kleines Land, mit nur sechs Millionen Einwohnern. Aber wir hatten 180 Tonnen Gold. Das ist eine große Menge für ein kleines Land. Aber um die wirtschaftliche Unabhängigkeit Afrikas zu erreichen, hoffte Gaddafi, 4.000 Tonnen Gold einsammeln zu können, das die afrikanische Goldreserve bilden sollte. Darauf wollte er die Afrikanische Zentralbank aufbauen, um die Französische Zentralbank zu ersetzen, die die afrikanische Wirtschaft kontrolliert. Es sollte eine gemeinsame goldbasierte afrikanische Währung geben, um den Dollar zu ersetzen und eine eigene afrikanische Wirtschaft aufzubauen. Er träumte nicht nur von diesen Dingen, sondern arbeitet kraftvoll daran. Er hatte die Zustimmung vieler guter afrikanischer Führer. Und tatsächlich war er dabei, seine Ziele zu erreichen. Beispielsweise wurde 2008 der erste afrikanische Satellit in seine Umlaufbahn gebracht und die ersten Schritte zur Gründung der Afrikanischen Zentralbank waren getan. Die Afrikanische Union war im September 1999 in der Stadt Sirte gegründet worden. In genau der Stadt, in der Gaddafi seine letzte Schlacht schlagen musste gegen eben jene Kräfte, die die Etablierung der Afrikanischen Union hassten.

Frage: Die britische Regierung und internationale Wirtschaftsinstitute sowie ähnliche Institute innerhalb der Nato-Staaten sagen, sie würden die gleichen Ziele wie die genannten, wie die von Gaddafi, verfolgen. Sie behaupten aber, deren Interesse bestünde eher darin, dass sich al-Kaida und der IS in den Küsten des Mittelmeeres festsetzen können.

Moussa Ibrahim: Das ist eine alte britische Strategie. Ich muss zugeben, sie hat sich als erfolgreich erwiesen. Seit dem 19. Jahrhundert wird sie von den Briten innerhalb ihres Empires angewandt und andere imperialistische Staaten haben die Lektion gelernt und benutzen sie ebenfalls sehr geschickt, d.h. sie wenden sie innerhalb des Kontextes eines Landes an. Sie erzeugen ein Kriegschaos, indem sie interne Konflikte ausnutzen, etwa eine interne religiöse Spaltung, eine Besatzung, was immer möglich ist. Dann wird das Chaos am Leben erhalten und gemanagt. Denn indem man das Chaos managt, stellt man sicher, dass der Kontext geschwächt ist und unter Kontrolle bleibt. Man kann den Kontext verändern. Dann kann man genau auf die entgegengesetzten Faktoren setzen und so sicherstellen, dass – sollte das Spiel eine andere Richtung nehmen – es sich zu den eigenen Gunsten ändert. So unterstützt man manchmal Liberale, weil sie deine Agenten sind und bestimmte Werte vertreten, die man durchsetzen möchte. Und ein andermal denkt man, ok, jetzt unterstützen wir die Islamisten, so wie es der Westen in Afghanistan getan hat oder eine Zeitlang im Irak, wo sie Saddam Hussein loswerden wollten. Und wenn sich das Spiel dreht, sagt man ok, jetzt stoppen wir die Unterstützung für die Islamisten und managen die Krise anderweitig. Wir unterstützen den General einer Armee. Es ist ein Spiel, das an den Kriegsschauplätzen der westlichen imperialistischen Zentren vervollkommnet wurde. Jetzt ist es ihnen zur zweiten Natur geworden. Libyen ist seit acht Jahren den westlichen Angriffen ausgesetzt. Man könnte erwarten, es sei jetzt ein demokratisches Land, ein glückliches Land, dem der Westen hilft und der es schützt. Doch schauen Sie sich Libyen heute an: Totschlag, Zwietracht, Stammeskriege, Morde, Terrorismus, Diebstahl des nationalen Besitzes. An was erinnert Sie das? Irak, Syrien, Afghanistan, Jemen. Es ist immer die gleiche Geschichte. Sie passiert zu jeder Zeit, aber einige Leute sehen das immer noch nicht. Das erscheint mir absurd. Die Wahrheit ist offensichtlich. Und es schmerzt mich, dass Menschen der Hass gegen jemanden wie Gaddafi oder Saddam Hussein wichtiger ist, als dass zu sehen, was gerade geschieht, jeden Tag, über Jahre hinweg.

Frage: Warum hat es nach dem Tod von Gaddafi so lange gedauert, bis Sie wieder mit Medienvertretern sprechen?

Moussa Ibrahim: Nun, nach dem Zusammenbruch des Landes als Führer des politischen, militärischen und kulturellen Widerstands gegen das westliche Projekt in Libyen wurden wir politisch verfolgt und die Versuche, uns zum Schweigen zu bringen und uns zu marginalisieren, hielten an.

Frage: Wie konnten Sie überleben? Es wurde berichtet, Sie seien gefangengenommen worden. Ich habe eine Menge Berichte, Sie seien im September 2011, im Oktober 2011, im Januar 2012 gefangengenommen worden. Ist daran etwas Wahres?

Moussa Ibrahim: Nein. Nein, ich meine, wir waren immer mittendrin, im Zentrum. Aber wir haben innerhalb Libyens im Untergrund gearbeitet. Und außerhalb Libyens mit vielen tausenden Führern in den verschiedensten Kontexten. Und wir haben die Alternative für Libyen angeführt. Wir haben mit unseren Leuten gesprochen, mit unseren Stämmen und unseren Städten. Und wir waren sehr erfolgreich. Erst in der letzten Zeit, im letzten Jahr oder in den letzten zwei Jahren, hat sich die politische Szene zum Positiven verändert. Die ganze Verschwörung gegen Libyen wurde offengelegt.

Frage: Das ist Ihre Sicht der Dinge. Ein ehemaliger britischer Diplomat, der in Tripolis war, sagte, er glaube immer noch fest an die von der UN anerkannte Regierung. Natürlich gebe es eine Menge zu tun wegen dieses von den Franzosen unterstützten General Haftar. Was genau ist die Position der Grünen Widerstandsbewegung und von Saif al-Gaddafi?

Moussa Ibrahim: Manchmal wenn ich europäischen und amerikanischen Diplomaten zuhöre, denke ich, ok, manche von ihnen sind einfache Leute und sie verstehen die Vorgänge nicht. Aber manchmal, und dass muss man laut sagen, fehlt es an Moral. Diese Leute haben keinen Anstand. Wie können sie so ein Land beschreiben, das im Chaos versinkt, das täglich unter Morden und Bomben zu leiden hat, unter Stammeskämpfen, unter Milizen, unter Terrorismus – ein Land, das jahrzehntelang im Frieden gelebt hat und jahrzehntelang eines der reichsten und stabilsten afrikanischen Länder am Mittelmeer war. Und dann kommt jemand und sagt, er glaubt an diese nationale Regierung? Hier kommen wir in einen unmoralischen Bereich; das ist unanständig. Sie wissen, dass jeden Tag Menschen sterben.

Frage: Aber die Regierung hat ein UN-Mandat.

Moussa Ibrahim: Die UN wird von den Supermächten kontrolliert. Die UN wird kontrolliert und sie ist ein Teil des Spiels der Zerstörung Libyens. Es kann dort über manches debattiert werden. Aber es gibt nichts darüber zu debattieren, dass Libyen eine Katastrophe ist.

Frage: Wenn Sie an die vielen Flüchtlinge denken, vielleicht zehntausende, die seit dem Tod Gaddafis im Mittelmeer ertrunken sind, was fühlen Sie, wenn Sie diese Nachrichten sehen?

Moussa Ibrahim: Ja, natürlich, die Situation in Nordafrika und in der Sahelzone stimmt uns sehr traurig. Wissen Sie, wir hatten Projekte für die afrikanischen Staaten in der nordafrikanischen Region und in der Sahelzone geplant, um illegale Migration einzudämmen und die nationale Industrie und Wirtschaft aufzubauen, damit die afrikanischen Menschen nicht ihr Leben bei der Überquerung des Mittelmeers riskieren müssen. Aber von all diesen Alternativprojekten, die wir vorhatten – schauen Sie, was davon noch existiert – die gesamten inneren Strukturen der afrikanischen Länder wurden komplett zerstört, insbesondere in Libyen das Schulsystem, Krankenhäuser, die Gesundheitsvorsorge, alles. Und anstelle der Vereinigten Afrikanischen Armee gibt es jetzt AFRICOM, das US-amerikanische Militärkommando für Afrika. Es gibt französische Streitkräfte und die G5 in Westafrika, und anstelle der Afrikanischen Zentralbank, die den Flüchtlingen und den afrikanischen Staaten dienen sollte, gibt es die Französische Zentralbank und anstatt einer goldbasierten Wirtschaft haben wir die Unterordnung der afrikanischen Ökonomie unter die globale Kapitalismusmaschinerie. Das ist alles ein Teil derselben Geschichte. Sogar die internen Probleme, die in Libyen vorher existierten, werden ausgenutzt. So arbeitet das Empire.

Frage: Es ist eine Ironie, dass der Tod Gaddafis die Staaten der Europäischen Union wegen der Migration und dem Anwachsen der extremen Rechten schwer traf und destabilisierte.

Moussa Ibrahim: Die Leute sagen, dass Gaddafi nicht nur ein Panafrikanist, sondern ein Internationalist war. Er wollte wirklich Frieden und Ruhe und Entwicklung und Zusammenarbeit. Deshalb war er 2009 Gastgeber und Kopf des Europäisch-Afrikanischen Gipfels in Libyen. Er wollte Afrika aufbauen und er wollte gute Beziehungen zu Europa. Er wollte eine neue Weltordnung der Gerechtigkeit und des Friedens und der Zusammenarbeit. Das war für das imperialistische kapitalistische System sehr schwierig zu ertragen.

Frage: Es wird viel darüber geschrieben, welche Rolle der Rassismus bei der Nato-Mission in Libyen spielte. Sie kennen Gaddafi und andere Minister der libyschen Regierung. Was sagte er, als er Nelson Mandela unterstützte?

Moussa Ibrahim: Nun, die britische Regierung nannte Mandela einen Terroristen. Margaret Thatcher und ihre Minister nannten ihn so. Viele westliche Diplomaten und sogar Intellektuelle erklärten ihn zum Kriminellen.

Frage: Aber war ihm klar, dass die Unterstützung für Mandela Auswirkungen auf Libyen haben würde?

Moussa Ibrahim: Natürlich. Gaddafi war sehr aufrichtig und transparent zu den Leuten, mit denen er eng zusammenarbeitete. Er sagte, macht keine Fehler. Wir werden nicht nur für das bestraft, was wir für Libyen getan haben, sondern auch für das, was wir für Afrika und andere Entwicklungsländer taten. Wir bezahlen den Preis, weil wir Nelson Mandela unterstützten, weil wir die Schwarzen unterstützten, weil wir echte revolutionäre Politik unterstützten. Gaddafi war glücklich, dass er bis zu seinem Tod kämpfen konnte. Er wusste, es hätte Fluchtmöglichkeiten gegeben. Er entschied sich, nicht zu gehen. Es wurden ihm auch von afrikanischen Führern, die ihn während des Kriegs besuchten, Fluchtwege angeboten. Aber er sagte, wenn er das Land verlässt, werden all seine Ideen, für die er gekämpft hat, sterben; aber mit seinem Tod werden seine Ideen überleben. Und ich glaube, dass die Ideen und die Prinzipien und die Projekte, an deren Spitze er stand, weiterleben werden. Sie werden in der Zukunft mit enormer Macht zurückkommen.

Frage: Das sagen Sie. Joe Biden, der im nächsten Jahr als Freund von Hillary Clinton für die Demokraten bei den Präsidentschaftswahlen antreten will – was fühlten Sie, als Sie Hillary Clinton auf diese Weise über Gaddafi sprechen hörten?

Moussa Ibrahim: Hillary Clinton ist eine Kriegsverbrecherin. Sie wusste, was in Libyen vor sich ging. Sie verstand alles und das wurde aufgedeckt, als Wikileaks ihre Mails veröffentlichte. Sie sagte ganz deutlich, dass die Beschuldigungen gegen Gaddafi zumindest übertrieben waren und dass die Franzosen wegen des libyschen Goldes mitmachten und wegen ihrer Vorbehalte gegen das, was Gaddafi in Afrika tat. Aber sie machte weiter, weil sie wusste, dass mit dem Zusammenbruch von Gaddafis Libyen sich die Chancen für die USA und Europa erhöhen würden, Afrika zu kontrollieren. Und so kam es auch. Die Amerikaner haben jetzt viele, viele Militärbasen, ebenso hat sich das Schürfen nach Gold und der Abbau von Uran intensiviert, Uran im Niger, Gold in Burkina Faso, aber auch andere natürliche Ressourcen wie Öl und Gas in Libyen. Die Politiker sind nichts anderes als Diener der Maschinerie.

Frage: Nun, Hillary Clinton würde wohl bestreiten, dass sie eine Kriegsverbrecherin ist. Tatsächlich würde sie sagen, dass sie von den Rechten beschuldigt wird, die US-Diplomaten in Bengasi nicht geschützt zu haben. Ich muss Ihnen sagen, Libyen ist für viele normale Menschen in den Nato-Staaten ein Synonym für Terrorismus. Kommen wir zu dem Konzert in Manchester. Wie haben Sie sich gefühlt, als sie das Blutbad im Fernsehen sahen?

Moussa Ibrahim: Das war schrecklich traurig und es tut uns weh, wenn die normalen Menschen im Westen für die kriminellen Machenschaften und Fehler ihrer Regierungen zahlen müssen. Wenn man eine Krise managen muss... eine Krise ist ihrer Definition nach eine Krise. Man kann sie managen, aber man kann sie nicht hundertprozentig kontrollieren. Manchmal gibt es Rückschläge, weil man das wichtigste Ziel erreichen will. Man hat die Konsequenzen zu tragen und muss sie nehmen, wie sie kommen. Die Briten und die Amerikaner könnten den Terrorismus sehr leicht abstellen, indem sie ihn einfach nicht mehr unterstützen, nicht mehr finanzieren, ihn nicht mehr erschaffen. Aber sie haben sich dazu entschlossen, weiterzumachen. Das ist kein Geheimnis. Ich habe es in diesem Interview bereits deutlich gemacht. Das ist bekannt und ich stimme dem voll zu. Der Westen ist sich bewusst, was für ein Spiel er spielt und dass er den Preis dafür zahlen muss.

 

Teil 2 des Interviews (> LINK zu Teil 2)

 

Afshin Rattansi: Heute zu Gast der ehemalige Pressesprecher von Muammar al-Gaddafi, Ibrahim Moussa. Lassen Sie uns beginnen mit der Frage, welche Rolle Sie während der libyschen Krise gespielt haben. Oktober ist ein wichtiger Monat für Sie und den libyschen Staat.

Ibrahim Moussa: Ich war der Minister für Information und Medien und Sprecher der libyschen Regierung. Meine Aufgabe war es, die damalige libysche Position darzustellen und zu vertreten, auch gegenüber den internationalen Mainstream-Medien, die zweifellos Teil der Maschinerie waren, die sich die Zerstörung des Landes zum Ziel gesetzt hatte. Mit freien Märkten gegen die soziale Ungleichheit: Stagnierende Arbeitslosenzahlen, Niedriglöhne, soziale Ungerechtigkeit – die zentralen Probleme unserer Zeit stürzen die westlichen Volkswirtschaften zunehmend in die Krise und der Ruf nach mehr Kontrolle über die Märkte wird immer lauter. Aber ist das wirklich die Lösung?

Frage: Am 20. Oktober wurde Muammar al-Gaddafi ermordet. Wie es aussieht, ist Oktober überhaupt ein wichtiger Monat in der Geschichte Libyens bei seinem Kampf gegen die globalen neoliberalen Interessen.

Ibrahim Moussa: Unbedingt. Die westliche Invasion in Libyen erfolgte auf den Tag genau hundert Jahre nach der italienischen Invasion am 7. Oktober 1911, die eine jahrzehntelange Besetzung Libyens zur Folge hatte. 1970 vollzog sich innerhalb weniger Monate die September-Revolution unter der Führung von Gaddafi. Gaddafi wählte das gleiche Datum, den 7. Oktober, um jede italienische militärische und nicht-militärische Präsenz im Land zu beenden und Libyen nach fast sieben Jahrzehnten von der italienischen Besatzungsmacht zu befreien. Dann, innerhalb weniger Monate, verwies er auch das britische Militär des Landes, ebenso wie das amerikanische Militär, das dort nach Japan und Deutschland die drittgrößte Militärpräsenz außerhalb der Vereinigten Staaten unterhalten hatte. All diese Akte der Befreiung fanden ihren Höhepunkt, als sich Gaddafi zu seinem letzten Kampf entschloss, der im Oktober in der Stadt Sirte geführt wurde, dort, wo die Afrikanische Union ins Leben gerufen worden war. Und er kämpfte dort mutig und entschlossen bis zu seinem Märtyrertod.

Frage: Nun, er hat verloren und – laut Ihnen – hat das libysche Volk verloren. Gerade jetzt wird von einem möglichen Krieg gegen den Iran gesprochen. Selbst die Europäische Union weigert sich, den demokratisch gewählten Präsidenten von Venezuela anzuerkennen. Ich denke, die Zuschauer werden verstehen, all diesen Ländern ist das Erdöl und sind die fossilen Ressourcen gemeinsam. Welche Fehler wurden gemacht? Und auf was müssen diese Länder besonders achten, wenn sie gegen die EU – soweit es Venezuela betrifft –, dem Iran, der Supermacht im Nahen Osten, zur Seite stehen?

Ibrahim Moussa: Wir wissen sehr genau, was die internen Schwächen sind. Und auch Gaddafi war sich der internen Probleme Libyens bewusst. Zuerst einmal, Libyen ist eine auf Erdöl basierte Rentier-Ökonomie. Wir haben es in all den Jahrzehnten nicht geschafft, sie in eine produktive, mitbestimmte Wirtschaft umzuwandeln.

Frage: Es gab eine ökologische Revolution. Man denke an Solarpanels.

Ibrahim Moussa: Wir hatten viele Entwicklungsprojekte. Wir bauten Häuser, Schulen, hatten ein Gesundheitssystem. Der Human Development Index der Vereinten Nationen stufte Libyen damals sehr, sehr hoch ein. Aber unser größter Fehler war, dass die Bevölkerung vom Erdöl und den Schwankungen des Ölpreises abhängig blieb. Und wenn man eine Rentier-Ökonomie hat, fühlt sich das so ähnlich wie eine „Beute“ an, um die sich die Leute streiten. Wenn die Menschen dagegen einer produktiven Arbeit nachgehen und wenn ihnen das gehört, was sie produzieren, bekommen sie ein anderes Gefühl gegenüber ihrem Land und gegenüber dem Platz, den sie innerhalb der Gesellschaft einnehmen.

Ich denke, unser zweiter Fehler bestand darin, dass wir unser politisches, demokratisches System nicht vertieften, damit es so weit wie möglich integrierend wirkt und so lokal wie nur möglich verankert ist. Eine Zeit lang hatten wir dies mit Erfolg gemacht, in den 70er, 80er und einem Großteil der 90er Jahre. Aber auf Grund des äußeren Drucks und wegen Fehlern, die uns unterlaufen waren, haben wir den politischen Prozess in den Zeiten, als der Kapitalismus bejubelt wurde, zentralisiert. Und wir setzten etwas zu sehr auf Stammesstrukturen, anstatt auf zivile Strukturen, die in Einklang mit der libyschen Kultur stehen. Ein dritter Fehler war, dass wir uns auf einen revolutionären Kontext innerhalb Afrikas verließen, den es nicht gab. Es liegt in der Natur des Unterdrücktseins, kein revolutionäres Bewusstsein zu haben. Gaddafi setzte auf die afrikanischen Nationen und die normalen afrikanischen Menschen, darauf, dass sie sich mit ihm erheben würden, dass sie ihn unterstützen und die Befreiungsprojekte, die er vorhatte, verteidigen würden. Aber sie haben uns nicht geschützt.

Frage: Wie sollte das geschehen? Ich meine, man kann Che Guevaras Tagebücher lesen, wie er im Kongo scheiterte. Warum haben Sie und andere Mitglieder der libyschen Regierung nicht realisiert, dass dieses Scheitern in einem verknöcherten System endemisch ist?

Ibrahim Moussa: In den Anfangszeiten gab es viele große Führer wie Patrice Lumumba, Kwame Kkrumah, Nasser und Mandela. Aber sie hatten vor Ort keine echten Projekte laufen. Dagegen waren wir in Libyen in der glücklichen Lage, ein starkes Revolutionssystem zu haben; dazu verfügten wir über die wirtschaftlichen Mittel und konnten so diese echten Freiheitsprojekte auf den Weg bringen, die Afrikanische Zentralbank, eine Einheitswährung, eine afrikanische Armee, die Organisation Afrikanischer Ressourcen und das Satellitennetzwerk, ebenfalls für alle. Und diese Projekte waren bereits in den Anfangsstadien und wir glaubten, dass wir sie zusammen mit einigen guten afrikanischen Führern, revolutionären Führern, verwirklichen könnten. Wir hatten auch einen großen Erfolg: Im September 1999 wurde die Afrikanische Union in der Stadt Sirte gegründet. Aber ich denke, der Westen erkannte die Gefahr, die in all dem lag. Es war ihm klar, dass es sich nicht nur um illusionäre Träume handelte, sondern dass vor Ort hart dafür gearbeitet wurde. Afrika könnte damit seine Unabhängigkeit erlangen und würde der globalen kapitalistischen Maschinerie das Öl entziehen, das sie schmiert: den afrikanischen Reichtum. Ein afrikanischer Kontinent, stark, produktiv, mit politischer und demokratischer Mitbestimmung und einer vereinigten Armee, anstatt eines amerikanischen Militärkommandos und den französischen F5-Streitkräften. So etwas kann das globale kapitalistische System nicht wegstecken. So etwas muss gestoppt werden. Das hörten wir von europäischen Diplomaten und das hörten wir von Leuten auf dem ganzen Kontinent. Das ist etwas, das in Afrika jeder weiß und jeder versteht. Normale Menschen im Westen können das nicht so verstehen. Trotzdem ist es so: Libyen wurde zerstört, weil es von der afrikanischen Befreiung träumte. Das darf man nicht falsch sehen.

Frage: War es ein weiterer Fehler zu glauben, dass Moskau und Peking Gaddafi und die Revolution unterstützen würden?

Ibrahim Moussa: Dies ist eine weitere Lektion, die vierte Lektion, die wir gelernt haben: Du musst mit anderen gemeinsam kämpfen. Einer der Fehler, die Libyen machte, bestand darin, dass es alleine war. Wir hatten keine Verbündeten, die uns bei einer plötzlichen Konfrontation unterstützt hätten.

Frage: Beziehen Sie sich auf Syrien?

Ibrahim Moussa: Ja, zum Beispiel. Gaddafi war sich dessen bewusst. 2009 besuchte er Venezuela und schlug die Schaffung von SATO vor, als Gegenstück zur NATO, Südatlantik, zwischen Afrika und Lateinamerika, anstatt Nordatlantik. Und einige lateinamerikanische Länder mit revolutionären Regierungen signalisierten ein grundsätzliches Einverständnis und er bemühte sich auch, dafür die Unterstützung von afrikanische Staaten zu bekommen. Er war sich bewusst, dass eine Vereinigung einen globalen Kontext benötigt. Doch es fehlte ihm die Zeit dafür. Schon eineinhalb Jahre nachdem er den Vorschlag von SATO gemacht hatte, griffen sie ihn an.

Frage: Was ist die Grüne Widerstandsbewegung heute? Was macht sie? Weil die Neuigkeiten über Libyen, was die ‚Einheitsregierung‘ betrifft, die das Mandat der britischen Regierung und der UN hat und General Haftar ...

Ibrahim Moussa: Wie kann man den Anschein einer nationalen Regierung in einem fremden Land herstellen?

Frage: Der Sicherheitsrat sagte ...

Ibrahim Moussa: Ja, der Westen brachte angeblich Demokratie und alles Gute ins Land – mit seinen Raketen.

Frage: Die Grüne Widerstandsbewegung lehnt das ab. Lehnt sie auch General Haftar ab?

Ibrahim Moussa: Zuerst einmal, die Grüne Widerstandsbewegung ist nicht so etwas wie ein politischer Ausschnitt des Landes, sondern wir repräsentieren die große Mehrheit des libyschen Volkes. Sogar unsere Feinde in Libyen, die Agenten der Nato, räumen dies ein. Sie bekennen das ganz öffentlich in den libyschen Medien. Sie geben das zu. Sie wissen, dass die Mehrheit der Libyer auf der Seite von Gaddafi kämpfte. Wenn man ihnen zuhört, ihren Führern, die sagen es. Sie sagen: „Oh, Gaddafi nutzte die Stammesstrukturen des Landes, damit sich die Stämme mit ihm verbündeten.“ Aber das ist die Kultur des Landes. Und wenn die große Mehrheit der Bevölkerung auf einer Seite steht, dann sollte man auf der Seite der Bevölkerung stehen.

Frage: Wie überlebte die Allgemeinheit? Wie überlebten Sie?

Ibrahim Moussa: Das war reines Glück. Ich meine, wir kämpften – meine Rolle war natürlich eine politische, ich kämpfte nicht direkt – aber als Tripolis fiel, musste ich mich nach Bani Walid zurückziehen. In Bani Walid und in Sirte führten wir drei Monate lang den militärischen Widerstand an. Man sollte nicht vergessen, dass Libyen acht Monate Widerstand leistete, gegen 44 Länder einschließlich der übermächtigen NATO. Nun, wenn Gaddafi isoliert gewesen wäre und ihm niemand zur Seite gestanden hätte, und das libysche Volk gegen ihn rebelliert hätte, wie hätte das funktionieren können? War Gaddafi eine Art Magier? Wie hätte er den NATO-Angriff stoppen und acht Monate lang Widerstand leisten können, wenn er nicht die libysche Bevölkerung auf seiner Seite gehabt hätte? Wie waren viele, wir waren die Mehrheit, wir kämpften und viele Kameraden und viele Freunde starben. Durch pures Glück haben wir überlebt. Ich verließ im November 2011 das Land, einen ganzen Monat nach dem Märtyrertod unseres großen Führers Gaddafi. Ich ging weg, um uns zu reorganisieren. Das taten wir. Innerhalb unseres Widerstands sind großartige Persönlichkeiten. Wir haben Saif al-Islam Gaddafi, ein großartiger Typ mit großartigen Zukunftsvorstellungen für das Land.

Frage: Sie glauben, dass er im Land unterstützt wird und an Präsidentschaftswahlen teilnehmen wird?

Ibrahim Moussa: Wenn Sie libysches Fernsehen anschauen oder in libyschen Medien lesen – und das wissen auch jene, die gegen uns sind, also die westlichen Agenten – die wissen, wenn es Saif erlaubt wäre, in den politischen Kontext einzusteigen, wäre ihm die Unterstützung der meisten Libyer sicher. Warum sollte man mir das glauben? Stellen wir uns vor, wir hätten – so wie es anfangs angekündigt worden war – ein politisches System, an dem sich alle beteiligen könnten und in dem den Libyern erlaubt wäre, selbst und ohne internationale Einmischung über ihre Zukunft zu entscheiden. Dies hatten wir 2011 gefordert. Wir hatten auch eine Nationalkonferenz gefordert, unter der Voraussetzung, dass diese Nationalkonferenz in Libyen abgehalten wird, eventuell unter Aufsicht der Afrikanischen Union, und dass man die Libyer selbst über ihre Zukunft entscheiden lässt. Das möchte der Westen nicht, weil er weiß, wie sich die Libyer entscheiden würden. Er weiß, sie würden den Grünen Widerstand wählen; er weiß, sie würden einen Weg in die Zukunft wählen, der nicht ihren Wünschen entspricht. Deshalb haben sie sich entschlossen, die Krise zu managen. Das Chaos muss am Laufen gehalten werden.

Frage: Ich muss Ihnen nicht sagen, dass die CIA in ihrer langen Geschichte oft versuchte, revolutionäre Führer zu ermorden. Haben Sie und Muammar al-Gaddafis Sohn, Saif, wie von Ihnen beschrieben eine Integrationsfigur, keine Angst, dass man versuchen könnte, sie zu ermorden?

Ibrahim Moussa: Wir sind alle in Gefahr. Wie ich sagte, wir wurden politisch verfolgt. Es gab viele Versuche, uns zum Schweigen zu bringen, uns zu marginalisieren. Wir haben um das Leben vieler unserer Führer Angst. In Libyen sterben täglich die Anführer unseres Widerstands. Sie kämpfen gegen die NATO-Agenten, in Libyen nennen wir sie NATO-Contras. Doch wir wissen, dass wir Libyen zu einem bestimmten Zeitpunkt, und der liegt nicht in ferner Zukunft, zurückerobern werden. Nicht wegen einer politischen Ideologie oder eines speziellen politischen Regimes, sondern zum Wohle aller Libyer, für eine Politik, die alle miteinbezieht und für ein inklusives Wirtschaftssystem, das die Rückkehr Libyens zu einer freiheitlichen Agenda garantiert; ein Libyen, das seine Projekte der afrikanischen Befreiung wiederbelebt, das wieder ein souveräner Staat, ein unabhängiger Staat, ein geachteter Staat wird, und kein chaotischer Staat mehr ist, der vom Westen gemanagt wird.

Frage: Meinen Sie, dass Muammar Gaddafis Sohn an zukünftigen Wahlen teilnehmen will, sich einer demokratischen Wahl stellt, und diese Wahl gewinnt?

Ibrahim Moussa: Zunächst ist die Frage nach dem politischen Kontext sehr wichtig. Wir wissen nur zu genau, wie der Westen politische Prozesse manipuliert und wie er es schafft, die Krise weiter am Köcheln zu halten, um aus den sich daraus ergebenden Konsequenzen seine Vorteile zu ziehen. Deshalb ist für uns die Teilnahme Saifs an Präsidentschaftswahlen nicht das Wichtigste, sondern am wichtigsten für Saif ist der Grünen Widerstand, damit er seine Alternativen präsentieren und das libysche Volk zusammenzuhalten und die ausländische Verschwörung gegen das Land bekämpfen, Libyen zurückbekommen kann.

Frage: Wie hat er überlebt? Wie Sie es darstellen, wurde er von Islamisten angegriffen, die die Unterstützung Großbritanniens hatten, und die ihn töten wollten. Würden Sie sagen, nach den NATO-Bomben ...

Ibrahim Moussa: 2011 wurde er zusammen mit seinen Kameraden von der NATO bombardiert, wobei er verletzt wurde. Dann nahm ihn eine Miliz gefangen, die ihn aber gut behandelte. Diese Miliz wandelte sich zu seinen Unterstützern, die ihn sogar beschützten. Die Terroristen und NATO-Contras wollten ihn selbstverständlich in ihre Gewalt bringen, weil sie wussten, er ist sehr angesehen und stellt eine echte Alternative für das Land dar. Saif ist ein sehr intelligenter Mann. Er ist ein sehr anständiger Mensch. Er strebt nicht nach der Macht um der Macht willen. Sein Bestreben ist es, Libyen zu schützen. Und er nutzt seine Glaubwürdigkeit als Sohn des Führers, um die Menschen zu einen und mit ihnen in einen Dialog zu treten. Pausenlos hat er in den letzten Jahren eine Nationalkonferenz gefordert. Jeder sollte daran teilnehmen, einschließlich der Islamisten, einschließlich seiner persönlichen Feinde. Er sagte, lasst uns als Libyer zusammenkommen, über unsere Meinungsverschiedenheiten sprechen und zu einer Einigung kommen. Und er meint das wirklich aufrichtig. Saif ist dafür bekannt, dass er Diskussionen leiten und Dialoge führen kann, so wie mit den Islamisten während der Zeit des Revolutionssystems. Und er hatte damals Erfolg. Er erreichte, dass viele hunderte ehemaliger Terroristen die Waffen niederlegten, ihrer Ideologie abschwörten und wieder in die libysche Gesellschaft integriert wurden.

Frage: Kann eine nationale Bewegung wie diese erfolgreich sein ohne einen Partner von außen? Sie und Saif ... Was denken Sie über Syrien? Syrien war sehr nahe dran, in die Hände des IS und al-Kaida zu fallen, nach der Unterstützung des Westens für sogenannte moderate Rebellen. Was könnte das Blatt in ihrem Land wenden? Es ist immer noch chaotisch dort.

Ibrahim Moussa: Unsere Stärke ist das libysche Volk. Wir müssen eine Kultur des revolutionären Bewusstseins aufbauen und wir müssen den sehr kleinen Teil der libyschen Bevölkerung, der für den Westen arbeitet, davon überzeugen, dass er die falsche Wahl getroffen hat. Wir sind damit schon unglaublich erfolgreich. Viele derjenigen, die Teil der Verschwörung gegen ihr eigenes Land waren, haben das hinter sich gelassen. Wir sind jetzt Kameraden, wir reden und diskutieren miteinander, wir kooperieren, wir arbeiten zusammen. Deshalb müssen wir den Aufbau dieser Revolutions- und Freiheitskultur fortführen. Und wir müssen vor Ort nicht nur die Grüne Widerstandsbewegung organisieren, sondern unser Handeln auch mit den anderen Teilen der libyschen Gesellschaft abstimmen.

Frage: Wie werden Sie ihnen jemals wieder vertrauen können? Soweit ich verstanden habe, hat Gaddafi in seinen letzten Jahren mit Shell, BB, […], Marathon Oil verhandelt– ich bin mir nicht sicher, wo all das Geld ist. Condoleezza Rice vertrauen? Tony Blair vertrauen?

Ibrahim Moussa: Er vertraute ihnen nicht. Gaddafi wollte die Kriegsfront mit dem Westen beruhigen, damit er in Afrika Fortschritte erzielen konnte. Er wusste, Libyen ist ein kleines Land von sechs Millionen Einwohnern. Er kann nicht an allen Fronten kämpfen. Deshalb entschied er sich, in den 2000er-Jahren westliche Botschaften in Tripolis zu eröffnen, um begrenzt ökonomische Geschäfte mit einigen europäischen und amerikanischen ...

Frage: War das ein Fehler?

Ibrahim Moussa: Ich denke, so gesehen war es kein Fehler. Ich denke, es war eine gute Idee, die Front im Westen zu beruhigen und die Aufmerksamkeit auf den afrikanischen Kontinent zu richten. Aber wie ich schon sagte, wir hatten einige interne Schwächen und wir hatten einige afrikanische Schwächen und wir waren nicht fähig, wir hatten nicht genug Zeit, uns stärker aufzustellen. Wäre die 2011-Verschwörung etwas später gekommen, vielleicht fünf Jahre später, dann wären wir viel stärker gewesen; wir hätten afrikanische Institutionen aufgebaut gehabt wie die Vereinigten Afrikanischen Streitkräfte. Das hätte geholfen, uns zu schützen und solche Verschwörungen abzuwehren. Das hat der Westen gewusst, deshalb beeilte er sich so, in der Region die Farbrevolutionen ins Leben zu rufen und sie mit einer dermaßen hohen Geschwindigkeit durchzuziehen. Die Konflikte in Libyen begannen am 15. Februar, innerhalb nur einer Woche war schon die UN eingeschaltet, innerhalb nur eines Monats begann das Bombardement ...

Frage: Schneller als bei Ägyptens Mubarak, ok. Aber: Wo sind die Milliarden Dollar des libyschen Volkes, sein großer Reichtum?

Ibrahim Moussa: Das ist eines der wunderbarsten und großartigsten Dinge unseres Revolutionssystems. Niemand konnte nachweisen, dass wir Vermögenswerte des libyschen Staates schlecht verwaltet hätten. Sie haben keinen einzigen Penny finden können, der auf Gaddafis Name oder den Namen seiner Familie oder seiner Söhne oder Beamten angelegt war. Jeder Penny des libyschen Vermögens war da – es beträgt etwa 360 Milliarden Dollar – es liegt alles in westlichen Banken. Und das ist ein Fehler. Sie haben es natürlich eingefroren, es wird jetzt scheinbar von der UN kontrolliert.

Frage: Erzählen Sie mir von den Luftangriffen. Uns wurde natürlich in den westlichen Mainstream-Medien gesagt, dass es sich um chirurgische Luftangriffe gehandelt habe, ausgeführt von den modernsten NATO-Flugzeugen und -Schiffen der Welt.

Ibrahim Moussa: 2011 wurden mehr als 50.000 Libyer von der NATO getötet, unter ihnen tausende unschuldige Zivilisten, Frauen, Kinder, Söhne. Die westlichen Medien wussten dies genau – ich führte sie herum und zeigte ihnen die Massaker, zum Beispiel in der Stadt […], wo mehr als achtzig Kinder und Mütter getötet worden waren. In Sabrata, in Tripolis, in Sirte, in Zliten, überall gab es ein, zwei, drei, vier Massaker. Und viele davon wurden direkt und sofort von den westlichen Medien dokumentiert. Aber es sprach niemand mehr darüber. Niemand hat die NATO vor Gericht gebracht, niemand hat sie der Kriegsverbrechen beschuldigt. Dabei waren diese Menschen, die man massakriert hatte, bekannt. Man kannte ihre Namen, ihre Familien, ihren Wohnort, Fotos von ihnen. Sogar die ‚Einheitsregierung‘ musste diese Massaker zugeben. Sie organisierte zu deren Gedenken einige Konferenzen, Presse-Events.

Frage: Die NATO wird immer sagen, dass dies Beispiele für Kollateralschäden sind. Man wollte, anders als Gaddafi, Militäreinrichtungen treffen.

Ibrahim Moussa: Das ist einfach Schwachsinn. Das waren langanhaltende, systematische Angriffe auf zivile Gebiete, innerhalb libyscher Städte, an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten. Die lange Dauer und die Systematik dabei erzählen eine andere Geschichte.

Frage: Wie haben Sie sich seelisch erholt, nachdem sie diese Bombardements miterlebt und die Todesopfer gesehen haben?

Ibrahim Moussa: Ich sah die verstümmelten Leichen von Kindern, ich sah Mütter, die ihre Kinder umarmten, ich sah Tote in den Trümmern, ich sah Freunde und Kameraden, Zivilisten, manche waren Journalisten, Libyer, ich sah, wie sie vor meinen Augen getötet wurden. Ich sah zerstörte Häuser, Autos, Nachbarschaften ...

Frage: Sie waren Gaddafis Sprecher. Ihnen ist das Royal Holloway College in London bekannt. Dort sagte man, Sie haben ihre Doktorarbeit über den Aufbau einer digitalen Filmindustrie in Afrika nicht beendet. Sie studierten „Ökonomie in Kultur und Politik“. Sie haben einen Master in Philosophie. Sie beendeten Ihre Arbeit als Gaddafis Sprecher während eines blutigen NATO-Krieges. Wie geht es Ihnen heute?

brahim Moussa: Ich machte 2009 meinen Doktor in Philosophie über Medienkunst auf dem Royal Holloway College. Ich habe mein offizielles Abschlusspapier 2011 erhalten. Ich studierte politische Ökonomie an der University of Exeter und ich studierte Islamisches Recht und Sufismus an der Sawa‘s School of Oriental and African Studies in London. Mein akademisches Studium führte mich immer in die gleiche Richtung: ein kulturelles, ökonomisches, politisches und künstlerisches Verständnis der Welt. Für mich ist der wichtigste Kampf im Leben der Kampf für die Gerechtigkeit, hauptsächlich die ökonomische, aber auch die politische, für die Freiheit der Seele und des Körpers, des Geistes. Und ich konnte so leicht erkennen, besonders während ich meinen Doktor in Philosophie machte, der sich inhaltlich mit dem Aufbau digitaler Technologie in Afrika beschäftigte, wie der afrikanische Kontext total ausgebeutet wird, beraubt seiner Entwicklungsmöglichkeiten, beraubt seiner Freiheit, seiner eigenen Ausdrucksmöglichkeiten. Er wird von der westlichen kapitalistischen Maschinerie unterdrückt. Für mich fügt sich alles zusammen. Die Kunst, das Filmemachen, die Medien, die Philosophie, die Ökonomie laufen auf ein Ziel hinaus: die Befreiung des Individuums, die Befreiung der Nation, der afrikanischen Nation, der afrikanischen Menschen von der Unterdrückung durch die imperialistische Maschinerie.

Afshin Rattansi: Moussa Ibrahim, Danke.

Ibrahim Moussa: Danke Ihnen.

 
     
  erschienen am 8./11.Oktober 2019 auf Angelika Gutsches Blog beim Freitag > Teil 1 > Teil 2  
  Herzlichen Dank Angelika Gutsche für die freundliche Überlassung dieses Textes.  
  Reisen führten Angelika Gutsche unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan. Viele ihrer Reportagen wurden veröffentlicht. Sie betreibt die Website www.angelika-gutsche.de  
Antikrieg - Dossiers:
Syrien Israel Jemen Libyen Korea Ukraine

WikiLeaks

 
Immer interessant - ein Besuch im Archiv:
  John F. Schumaker - Der demoralisierte menschliche Geist
  George Szamuely - Der betrügerische Krieg der NATO im Namen der Frauen
  John Horgan - Warum Töten Soldaten Spaß macht 
  Klaus Madersbacher - Seuchen
  Ismael Hossein-zadeh - Warum Regimewechsel in Libyen?
  John Pilger - V I E T N A M - Psychokrieg gegen die Geschichte
  Ann Jones / Nick Turse - Amerikas Kindersoldaten
  Chase Madar - Guantánamo, Ausnahme oder Regel?
  Glenn Greenwald - Das Verbrechen des “Nicht-Zurück-Schauens”
  Paul Craig Roberts - Privatisierung ist ein Sprungbrett für Korruption, Gleichgültigkeit ist ein Sprungbrett für Krieg
  Susanne Kablitz - Die Magie der Angst
  Debbie Harbeson - Einige tiefer gehende Gedanken zum Krieg
  Oded Na'aman - Die Kontrollstelle
  Glen Ford - Obamas Krieg gegen die Zivilisation
  Jonathan Turley - ‘Wir haben ein paar Leute gefoltert’
  Paul Craig Roberts - Was uns Obama in West Point sagte
  David Swanson - Das Pentagon versucht, aus Verlierern Sieger zu machen
 
 
     
  Die Politik der Europäischen Union gegenüber Syrien ist nicht nur scheinheilig, zynisch und menschenverachtend, sie ist ein Verbrechen gegen den Frieden. Das wird etwa durch einen durchgesickerten UNO-Bericht (>>> LINK) bestätigt (von dem Sie nicht viel hören werden ...), siehe auch den Bericht der US-Abgeordneten Tulsi Gabbard (LINK) und das Interview mit dem niederländischen Pater Daniel Maes (LINK)! Neuere Informationen finden Sie in dem Artikel "In Syrien hungert jeder Dritte (LINK)". Der Bericht des Welternährungsprogramms der UNO (LINK) spricht Bände und kann daher dem breiten Medienpublikum wohl auch nicht zugemutet werden. Weitere Neuigkeiten über dieses Musterstück barbarischer Politik finden Sie >>> HIER.

Das ist die Politik der Europäischen Union, die offenbar von bestimmten Interessengruppen gelenkt wird und sich aufführt wie die Vereinigte Kolonialverwaltung der europäischen Ex-Kolonialmächte. Warum unsere politischen Vertreter nicht gegen diese kranke und abwegige, für keinen vernünftigen Menschen nachvollziehbare Politik auftreten, fragen Sie diese am besten selbst!

 
> Appell der syrischen Kirchenführer im Juni 2016 (!): Die Sanktionen der Europäischen Union gegen Syrien und die Syrer sind unverzüglich aufzuheben! (LINK) <
     
 
  Im ARCHIV finden Sie immer interessante Artikel!  
  Die Weiterverbreitung der Texte auf dieser Website ist durchaus erwünscht. In diesem Fall bitte die Angabe der Webadresse www.antikrieg.com nicht zu vergessen!  
  <<< Inhalt