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  Die Kontrollstelle

Terror, Macht und Grausamkeit

Oded Na’aman (Original)

Ein israelischer Soldat bezieht seinen Posten in Hebron / Tali Caspi

Eines Morgens, ich war etwa vier Jahre alt, da verkündete ich stolz vom Rücksitz unseres Familienautos aus meiner Mutter: „Mutter, ich möchte, dass du weißt, dass ich das erste Kind in meinem ganzen Kindergarten bin, das in meinem Kopf denkt und nicht laut außerhalb.“ Das Auto blieb stehen, als wir darauf warteten, dass die Ampel grün wurde. Meine Mutter drehte sich um zu mir, lächelte und sagte sanft: „Woher weißt du, dass du der erste bist?“ 

Ich war sprachlos. Mit einer kurzen Frage hatte sie mir die Welt entfremdet und mich zum Fremden in meiner eigenen Welt gemacht. Sie enthüllte ein Universum von Vorgängen, eine ganz neue Art von menschlicher Aktivität, mit der alle, die ich kannte – die Freunde, mit denen ich spielte, meine Geschwister, ja sogar meine Eltern – beschäftigt waren, zu der ich keinen Zugang haben konnte. An diesem Tag blieb ich im Kindergarten auf der Treppe sitzen und sah zu, wie die anderen Kinder spielten. Ausgehend von meiner neu erworbenen Erkenntnis fragte ich mich mit unmissverständlicher Beklemmung: „Wer weiß, was die denken?“

Bald erlangte ich wieder mein Vertrauen und wuchs auf, indem ich an die Menschen um mich herum glaubte. Ich wusste, dass sie eine Gefahr bildeten, aber ich fühlte sicher, dass ich nicht allein war und darum nicht hilflos, wenn ich es mit ihnen zu tun hatte. 

Vierzehn Jahre nach meiner großen Kindergarten-Entdeckung wurde ich in die israelische Armee einberufen. An den Kontrollstellen in der West Bank setzte der Terror anderer Denkweisen wieder ein. Er nahm meine Seele in Beschlag.

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TEIL 1: Beschreibung der Tätigkeit

Stehst du an der Kontrollstelle, musst du ständig die verschiedenen Möglichkeiten in Betracht ziehen, wie du angegriffen werden könntest: Woher werden sie kommen? Welche Strategie werden sie benutzen? Ist dieses Kind so unschuldig, wie es aussieht, oder schmuggelt es eine Waffe? Fährt dieser Rettungswagen wirklich eine Frau zur Entbindung ins Krankenhaus oder verstecken sich Feinde darin? Ist dieser alte Mann harmlos oder lenkt er bewusst deine Aufmerksamkeit von etwas ab, das hinter deinem Rücken geschieht? Du musst ihnen auf die Schliche kommen. Sie sind kreativ, und sie haben unsere Naivität und unseren guten Willen bereits in der Vergangenheit ausgenutzt. Sie können mit allem daherkommen, und du musst ihnen zuvorkommen. 

Das sind die Instruktionen, die Soldaten bekommen, bevor sie zu ihrem grundsätzlichen Kampfauftrag im israelischen Militär antreten: der Durchsetzung der Militärherrschaft in der West Bank.

In der Westbank hat das israelische Militär weder den Auftrag, feindliches Territorium zu erobern, noch einen Feind von desen Eroberung abzuhalten. Es ist eingesetzt in einem „Konflikt mit niedriger Intensität,“ eine Phrase, die die Unbestimmtheit der Okkupation zusammenfasst. Der Feind – das fremde Volk, das zu bändigen das Militär den Auftrag hat – befindet sich auf einem Territorium, das bereits unter der Kontrolle des Militärs steht. Nachdem das Militär das Land besetzt, in dem der Feind wohnt, kann es das feindliche Gebiet nicht noch mehr erobern, als es das bereits getan hat. Und insofern, als der Feind über kein Land verfügt, hat er keine politische Unabhängigkeit, keine Möglichkeit, ein bürgerliches Leben zu führen. Es ist daher unmöglich für Israel – logisch unmöglich – gegen die Palästinenser in der West Bank „in den Krieg zu ziehen“: palästinensische Individuen können in einem größeren oder kleineren Ausmaß leiden, aber das palästinensische Volk kann als Volk nicht noch mehr besiegt werden.

Gleichzeitig sind die Palästinenser der West Bank für Israel Fremde. Sie sind keine israelischen Staatsbürger und das israelische bürgerliche Recht gilt nicht für sie. Das israelische Militärrecht – das Gesetz, das zumindest im Prinzip das israelische Militär leitet und einschränkt – gilt ebenfalls nicht für die Palästinenser, obwohl es deren Leben maßgeblich beeinflusst. Recht beherrscht nicht die Beziehungen zwischen dem Staat Israel und palästinensischen Zivilisten in der West Bank. Anders als Bürger, die der Polizei gehorchen, nicht nur weil diese mächtig ist, sondern auch zuverlässig, befolgen die Palästinenser die Anweisungen des israelischen Militärs nur, weil dieses mächtig ist. Militärgesetze in der West Bank sind daher keine Gesetze, sondern nur, was der Rechtsphilosoph H.L.A. Hart als „durch Drohungen gestützte Befehle“ bezeichnete: Herkunft und Grenzen von deren Durchsetzungskraft hängen ab von Herkunft und Grenzen bestimmter Drohungen. 

Wenn daher ein Palästinenser Israels Befehle in der West Bank nicht befolgt, ist der Ungehorsam selbst bereits aufgrund seines Vorkommens ein Fehler bei der Okkupation. Jeder Ungehorsam muss ausgemerzt werden, damit das israelische Militär das Land und seine Bevölkerung fest im Griff hat. Brutale Gewalt kann die Möglichkeit des palästinensischen Widerstands nicht ausmerzen, aber so lange Widerstand möglich ist, kann das Militär, dessen einziges Werkzeug brutale Gewalt ist, nicht ruhen. Bei der Okkupation, so könnte es heißen, geht es darum, den Krieg auszukämpfen, bevor er beginnt, indem sie ständig den nächsten Ausbruch von Widerstand hinausschiebt.

Es geht darum, Präsenz (le’hafgin nohehut) zu demonstrieren, sagen die Kommandeure ihren Soldaten. Wir geben ihnen das Gefühl, dass wir jede ihrer Bewegungen überwachen und jede Aktion vorhersehen. Das ist die Lösung des Besatzers für das Problem, allem überall vorzubeugen: die Armee muss die Palästinenser glauben machen, dass nichts der Faust Israels entkommt. Die Soldaten demonstrieren Anwesenheit, um den Palästinensern die Furcht einzubleuen, dass sie da sind, sogar wenn sie es nicht sind. Es ist daher die inoffizielle, aber unumgängliche Taktik der israelischen Armee, ständige Furcht zu verbreiten durch willkürliche Akte der Gewalt.

Die israelische Armee demonstriert Präsenz in einer Reihe von verschiedenen Arten. Sie übersät die West Bank mit Wachposten, Spähpatrouillen zu Fuß, mit Jeeps, Humvees und Panzern. Sie führt willkürliche Razzien von Häusern und willkürliche Kontrollen von Autos und Fußgängern durch. Sie erzwingt ein Ausgehverbot. Wie auch immer, die bekannteste und berüchtigtste Form der Präsenz der israelischen Armee ist die Kontrollstelle („Checkpoint“).

Kontrollstellen und Absperrungen finden sich entlang der Grenze vor 1976, aber die meisten befinden sich innerhalb der West Bank: zwischen Dörfern, in den Außenbereichen von Städten, auf verlassenen Bergstraßen. Kontrollstellen können an auffallenden und strategischen Punkten liegen, oder da, wo sie am wenigsten erwartet werden. Einige sind durchgehend und stark bemannt, während andere zeitweilig sind und nur aus drei Soldaten und zwei Stoptafeln bestehen. Einige sind unbemannte Absperrungen. Laut den Vereinten Nationen gab es im September des vergangenen Jahres 522 Kontrollstellen und Absperrungen in der West Bank.  

Offiziell haben die Kontrollstellen die Aufgabe, das Kommen und Gehen der Palästinenser zu regeln. Je nach Kontrollstelle kann sein, dass ein Palästinenser eine Genehmigung vorweisen muss, um durchzukommen, oder es kann ihm der Durchgang nach einer Kontrolle erlaubt werden, sogar ohne eine Genehmigung.  

Die Hauptaufgabe der Kontrollstelle ist jedoch, Präsenz zu demonstrieren, die ständige Überwachung durch die Armee zur Schau zu stellen und deren überwältigende Macht. Weil die Kontrollstellen überall zu finden und mit intensiver Interaktion mit der zivilen Bevölkerung verbunden sind, haben sie sich zum klarsten Ausdruck der Doppelbotschaft der israelischen Armee an die Palästinenser der West Bank entwickelt: ihr könnt euch nicht verstecken und ihr könnt nicht kämpfen; Israel ist allgegenwärtig und allmächtig.

Wir vermitteln ihnen das Gefühl, dass wir jede ihrer Bewegungen überwachen und jede ihrer Aktionen erwarten. 

„Soldaten sollen immer Befehle und Regeln befolgen,” sagt der Oberst zur Einleitung seiner wöchentlichen Ansprache vor einem Saal, der mit hunderten von Neulingen gefüllt ist. Er schreitet auf der Bühne hin und her. Seine schweren Armeestiefel auf dem Holzboden unterstreichen die Pausen zwischen seinen Sätzen. 

„Jedenfalls,“ fährt er fort, hält inne, schaut in sein Publikum und hebt den Finger in die Luft, „müsst ihr euch immer an eure nüchterne Beurteilung (shikul-da’at) halten. Man kann nie wissen, was sie als nächstes versuchen werden. Befehle und Regeln sind heilig, aber sie können nicht alle möglichen Szenarios abdecken. Ihr müsst in jedem einzelnen Fall beurteilen und entscheiden, ob es eine Ausnahme von der Regel gibt. Da gibt es nichts, was so wertvoll ist wie die nüchterne Beurteilung eines Soldaten.“ 

Die Soldaten, die in der Halle sitzen, messen wahrscheinlich dieser letzten Instruktion keine besondere Bedeutung bei. Fürs erste sind dramatische Ausführungen über die verschiedenen Verantwortungen der Soldaten – gegenüber ihrem Land, ihrer Familie, den Mitsoldaten, den Vorgesetzten – üblich während der Grundausbildung und verlieren mit der Zeit ihre Kraft. Zum zweiten klingt, im Gegensatz zu vielen nutzlosen Anweisungen, die sie bisher bekommen haben, die Anweisung betreffend die nüchterne Beurteilung recht vernünftig: Wie können Befehle und Regeln alle möglichen Szenarios abdecken? 

Erst an der Kontrollstelle werden diese Soldaten die Bedeutung der nüchternen Beurteilung zu schätzen wissen. In einer Aussage gegenüber Breaking the Silence (Das Schweigen brechen) – einer Organisation, die von israelischen Veteranen geführt wird, die anonyme Aussagen von Mitsoldaten sammeln, sowie die Quelle aller Aussagen von Soldaten in diesem Artikel – erklärte ein Soldat, der an einer Kontrollstelle in Hebron Dienst machte:

Wenn jemand plötzlich „Nein“ zu dir sagt, was soll das für dich bedeuten? Woher nimmst du die Frechheit, zu mir nein zu sagen? Vergiss für einen Moment, dass ich in Wirklichkeit denke, dass alle diese Juden [die sich in der West Bank angesiedelt haben] verrückt sind und dass ich den Frieden haben will und glaube, dass wir aus den Territorien verschwinden sollten, wie wagst du, zu mir nein zu sagen? Ich bin das Gesetz! Ich bin hier das Gesetz!

Der Soldat hat nicht nur eine Befugnis, Ausnahmen zu machen; der Soldat hat eine Verpflichtung, Ausnahmen zu machen. An der Kontrollstelle besteht die Allmacht darin, Anweisungen zu kreieren, nicht nur in der Macht, diese durchzusetzen. Wenn die Anweisung eines Soldaten nicht befolgt wird, ist er es, seine Beurteilung, dem getrotzt wird, nicht nur eine Regel, die er repräsentiert. Ungehorsam ist daher an der Kontrollstelle immer personenbezogen. Das gilt auch für die Strafen, die folgen. Eine falscher Zug eines Palästinensers kann den Unterschied bedeuten zwischen zur Arbeit, in die Schule oder heim zur Familie zu kommen und gedemütigt, eingesperrt oder physisch angegriffen zu werden. Er kann den Unterschied bedeuten zwischen ein paar Stunden in der Sonne zu warten und umgebracht zu werden.

Aber da steckt mehr dahinter: die Verpflichtung des Soldaten, jeden vorliegenden Fall als eine Ausnahme von der Regel zu bewerten, ist Bestandteil der allgemeinen Strategie der israelischen Armee, ihre eigenen Strukturen und Regelwerk zu unterminieren. Die Armee will nicht, dass die Palästinenser abschätzen können, wie sie schnell und sicher durch die Kontrollstelle kommen können. Die Bestimmung betreffend die nüchterne Beurteilung beugt indirekt der Bildung von nutzbaren Verhaltensmustern vor.

Jede Handlung eines Palästinensers kann zu einer Bestrafung führen. Sie hat das Gleiche vielleicht schon unzählige Male in der Vergangenheit getan, aber wenn sie es das nächste Mal tut, unter anscheinend identischen Bedingungen, sogar vor den gleichen Soldaten, dann könnte das als Ausnahme bewertet werden. Ein Soldat berichtet, dass ihm von einem Patrouillenkommandanten gesagt wurde, dass man an einer Kontrollstelle

tun kann, was man will, was immer man tun möchte. Wenn dir vorkommt, dass es ein Problem gibt mit etwas, was ein Palästinenser getan hat, wenn dir vorkommt, dass etwas nicht passt, auch die kleinste Kleinigkeit, dann kannst du ihn festhalten, so lange du willst.

Ein anderer Soldat sagt: „Es gibt nichts in der Art einer ‚ordentlichen Kontrollstelle,’ weil man eine Kontrollstelle nicht ordentlich betreiben kann.

Es gibt demzufolge auch keine geregelte Auffassung betreffend Ungehorsam an der Kontrollstelle, keine geregelte Art, nach der Palästinenser sich benehmen sollen. Die einzige Möglichkeit für Palästinenser, die nächste Anweisung des Soldaten voraus zu ahnen, besteht darin, dass sie jederzeit versuchen, den nächsten Gedanken des Soldaten voraus zu ahnen. Ist er genervt? Ist er wohlwollend? Ist er auf eine Aktion aus? Fühlt er sich einsam und hofft auf ein freundliches Gespräch? Möchte er amüsiert werden? Hat er es eilig? Hat er Kummer und Sorgen? Der geistige Zustand des Soldaten beschäftigt den Palästinenser am dringlichsten: das ist eine Angelegenheit, bei der es um Leben und Tod geht. Wie ein Soldat bezeugt: „Ich kann dir versichern, dass sich dort eine unglaubliche Frustration aufbaut, es ist wirklich zum Fürchten. Ich könnte das alles an jemandem auslassen.“ Ein anderer berichtet von Palästinensern, denen ihre Ausweise und Mobiltelefone abgenommen und zu Brei geschlagen wurden, und die zwölf Stunden lang eingesperrt wurden, weil sie verdächtig in die Telefone gesprochen hatten. Eine falsche Handlung an der Kontrollstelle ist eine Handlung, die einen Soldaten dazu bringt, eine Strafe zu verhängen, also Leid zuzufügen. Um Ungehorsam zu vermeiden, müssen Palästinenser an Kontrollstellen ständig überlegen und nochmals überlegen, was ihnen eine Bestrafung eintragen könnte.

Die Umstände wecken in Soldaten und Palästinensern ein ausgeprägtes Interesse daran, jeweils die Gedanken der Gegenseite zu erfassen. Gerade dieses Interesse untergräbt ihre Aufnahmefähigkeit, sich gegenseitig zu verstehen. An der Kontrollstelle kann weder die Wahrheit gesagt werden, noch kann gelogen werden. Keine Verbindlichkeiten, keine Gesten, kein Lächeln und keine Beleidigungen. Es kann keinen Respekt und keine Respektlosigkeit geben, keine Schande und auch keine Ehre. Die Palästinenser werden das sagen und tun, von dem sie annehmen, dass es sie am ehesten durch die Kontrollstelle bringen wird. Die Soldaten werden das sagen und tun, was die Palästinenser so verängstigt bleiben lässt, dass sie nichts tun außer zu gehorchen.

Du schreist sie an in einer Art arabischem Hebräisch „Zurück!“ Und sie geben dir keine Acht. Du fängst also an, deine Waffe so zu halten, als wenn du sie wirklich einsetzen willst, und überall sind Frauen und Kinder und sie fangen zu weinen an und sie schreien auch, und es ist heiß und du hast das Gefühl, als würdest du in der nächsten Sekunde auf sie schießen.

Die Myriade von Zuständen des menschlichen Geistes spielt nur insofern eine Rolle, als dieser töten kann. Für das Menschsein ist kein Platz, wo die Vermeidung – oder viel mehr das Hinausschieben – des Todes das einzige ist, was zählt. 

Wie können menschliche Wesen tatsächlich eine Arbeit verrichten, die von ihnen verlangt, die physische Präsenz auf Kosten dessen zu erhalten, was Rousseau als „moralische Präsenz“ bezeichnet? Wie entwickelt sich dieser krasse Zielkonflikt?

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Teil 2: Bei der Arbeit

Eine bedeutende Anzahl von Soldaten hat kein Problem damit, den „Erfordernissen der Arbeit” gerecht zu werden. Diese kommen vielleicht aus gewalttätigen Verhältnissen. Willkür und die drohende extreme Feindseligkeit sind für sie nicht neu; dass sie letztlich die Oberhand haben, überrascht sie als ungewöhnlich. Das Verhalten dieser Soldaten wird in der Diskussion in der israelischen Öffentlichkeit oft als Beweis für ihre aggressive Natur gesehen, als Mangel an Moral und die Unfähigkeit, nützliche Mitglieder einer zivilisierten Gesellschaft zu werden. Nachdem aber der Einsatz von willkürlicher Gewalt das Wesen der Kontrollstelle ausmacht, kommt eine Anschuldigung dieser Soldaten wegen ihrer Gewalttätigkeit einer Anschuldigung gleich, die Anweisungen ihrer Vorgesetzten zu befolgen, von deren Zivilisiertheit angenommen wird, dass diese intakt ist.

Für Soldaten, die der Armee in dem Glauben beitreten, dass der Einsatz von Gewalt verantwortet werden und die Zufügung von Leid im Prinzip gerechtfertigt sein sollte, kann der Verlust von Rousseaus moralischer Präsenz schwerer zu ertragen sein. Einige teilen eine Denkweise, die in zahlreichen Aussagen geschildert und bestätigt worden ist und die ich hier beschreibe. 

Ungehorsam an der Kontrollstelle ist immer personenbezogen. Das sind auch die Strafen, die folgen.

Die wahre Natur des Auftrags dämmert dem Soldaten üblicherweise kurz nach seinem Eintreffen auf der Szene. Er kann die Anweisung bekommen, wie es mir bei einem meiner ersten Diensteinsätze ergangen ist, eine Kontrollstelle aus dem einen oder anderen Grund zu schließen. Ein palästinensisches Kind kommt heran und bittet, auf seinem Weg von der Schule nachhause passieren zu dürfen. Als das Kind entdeckt, dass die Kontrollstelle geschlossen ist und es nicht nachhause kommen kann, beginnt es zu weinen. Der Soldat denkt an die Freiheit und Verpflichtung, nach seiner nüchternen Beurteilung zu handeln und entscheidet, das Kind durchzulassen. Eine kurze Zeit später kommen zehn weinende Kinder. Sie alle hatten von einer neuen Möglichkeit erfahren, durch die Kontrollstelle zu kommen, auch wenn diese offiziell geschlossen ist. 

An diesem Punkt, vor sich die weinenden Kinder, realisiert der Soldat, dass er einen Fehler gemacht hat – nicht, weil diese Kinder gefährlich sind, sondern weil er es sich nicht leisten kann, von Zehnjährigen, ja von niemandem hereingelegt zu werden, was das betrifft. Es darf keine wirkungsvolle Möglichkeit geben, durch seine Kontrollstelle zu kommen. Alles in dieser Richtung könnte gegen ihn eingesetzt werden, gegen seinen Auftrag. Er kann nicht harmlose Zehnjährige von Zehnjährigen unterscheiden, die geschickt wurden, um ihn hereinzulegen. Alle sollen wissen, dass es an seiner Kontrollstelle an ihm und nur an ihm liegt zu entscheiden, was ihr Schicksal sein wird. 

Der Soldat kommt drauf, dass er nicht nach Mitgefühl handeln sollte, da Mitgefühl manipuliert werden kann. Aber kann er sein natürliches Gefühl unterdrücken? Das braucht Zeit. Wenn das nächste Mal eine ähnliche Situation auftaucht, lässt er das Kind nicht durch. Stattdessen lächelt er es an oder versucht, es zum Lachen zu bringen. Auch das sind Zeichen von Schwäche. Seine Nachsichtigkeit Kindern gegenüber, falls sie bekannt wird, kann gegen ihn eingesetzt werden. Er kommt darauf, wenn Familien beginnen, ihre Kinder zu ermutigen, ihn aufzuweichen, damit sie schneller passieren können. Wenn die harmlosen Palästinenser ihn manipulieren, dann können das auch die gefährlichen tun. Er unternimmt eine weitere Anstrengung, sein Mitgefühl zu unterdrücken.  

Wenn aber Gefühle wie Mitleid keine geeigneten Orientierungshilfen sind für seine nüchterne Beurteilung, welche sind es dann? Strikt die Befehle zu befolgen, führt genauso zum Scheitern. Er hat den Befehl, seine nüchterne Beurteilung zu benutzen, um Fälle zu erkennen, auf die die Befehle nicht zutreffen. Wie soll er solche Fälle erkennen? Jede Regel für die Erkennung von Ausnahmen wird einem höherrangigen Befehl zugeordnet werden müssen, nach dem ihre eigenen Ausnahmen erkannt werden müssen. Das scheint zu einem unendlichen Rückschritt zu führen. Schritt für Schritt erkennt der Soldat, dass er nicht anders kann als mit seinem Auftrag zu scheitern: die Regeln und Befehle, die er hat, um ihn zu führen, sind bedingt durch seine Entscheidung, die ihrerseits nicht durch irgendeine Regel gelenkt werden kann. Seine Entscheidung ist zwangsläufig belanglos.

Der Soldat behandelt ständig Menschen als Unschuldige, obwohl, so weit er das sagen kann, diese sich gegen ihn verschwören könnten; er schüchterst ständig Menschen ein, die ihm verdächtig erscheinen, obwohl sie, nach allem was er weiß, unschuldig sein könnten. Es gibt keine Grundsätze oder Regeln, die ihm helfen, einen Terroristen von einem harmlosen Bürger zu unterscheiden: alles, was er tut, entbehrt der Grundlage, und er weiß das. Ein Soldat berichtet von einem Taxifahrer, der immer wieder durch seine Kontrollstelle fuhr, um verletzte Kinder in das Krankenhaus zu bringen. Auf der Rückfahrt hatte der Fahrer immer zahlende Passagiere auf dem Rücksitz. Als die Soldaten an der Kontrollstelle den „Trick“ bemerkten, ließen sie ihn nicht mehr durchfahren. Von da an mussten die verletzten Kinder an der Kontrollstelle warten, bis ein Rettungsauto kam, um sie zu holen. Der Soldat erklärt:

Wenn du jeden durch lässt, der mit einem Kind und einem gebrochenen Arm kommt, dann lässt du Terroristen durch, schneller als du denkst. Die haben keine Hemmungen. Die werden vor nichts zurückschrecken.

Alle die übel wollenden Menschen, die er vielleicht durch seine Kontrollstelle durchgelassen hat; alle die unschuldigen Menschen, die wegen ihm gelitten haben. Er macht weiter, unfähig, über die Dinge nachzudenken, die er getan hat, welche mehr Schmerzen verursachen, als er je miterlebt hat.

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Tali Caspi

Die Philosophen Sidney Morgenbesser und Edna Ullmann-Margalit unterscheiden zwischen WÄHLEN und HERAUSGREIFEN. Wir wählen zwischen konkurrierenden Alternativen, wenn wir glauben, dass ein Unterschied dem einen den Vorzug gegenüber dem anderen gibt. Wir greifen heraus aus Alternativen, wenn uns die Unterschiede zwischen ihnen nichts ausmachen.  

Ullmann-Margalit und Morgenbesser machen einen weiteren Unterschied zwischen zwei Arten von Herausgreif-Situationen. Da gibt es die echten Herausgreif-Situationen, in denen der Herausgreifer nicht glaubt, dass zwischen den Optionen ein relevanter Unterschied besteht – zum Beispiel greifen wir eine von mehreren Dosen Campbell’s Tomatensuppe heraus aus dem Supermarktregal. Und dann gibt es eigentliche Herausgreif-Situationen, in denen der Herausgreifer glaubt, dass es einen relevanten – sogar entscheidenden – Unterschied zwischen den Optionen gibt, aber daran gehindert ist, diesen zu erkennen. Zum Beispiel: ein Mitspieler einer Show hat zwei identische Schachteln vor sich, von denen die eine $1.000 und die andere nichts enthält.

Aufgrund der nüchterne Beurteilungs-Bestimmung gibt es keine grundsätzliche Möglichkeit, zwischen den Palästinensern zu unterscheiden, die versuchen, durch die Kontrollstelle zu kommen. An der Kontrollstelle gibt es daher keine Wahl-Situation. Die Soldaten könnten ihre Situation als eine echte Herausgreif-Situation betrachten (bei der es keine tatsächlichen Unterschiede unter den Menschen gibt, mit denen sie zu tun haben) oder als eine eigentliche Herausgreif-Situation (in der die Unterschiede, obwohl bedeutend, nicht erkennbar sind).

Ein Soldat an der Kontrollstelle könnte sich etwa nicht darum kümmern, welcher besondere Palästinenser seine Demonstration von Gewalt durchmachen wird und daher keine Problem mit dem Herausgreifen haben. Denken Sie noch einmal an die Erfahrung mit dem echten Herausgreifen im Supermarkt: Sie nehmen eine Dose Campbell’s Tomatensuppe aus dem Regal. Es ist Ihnen egal, welche Dose Campbell’s Tomatensuppe das genau sein wird. Was den Soldaten betrifft, muss ihm nicht nur das Leiden unschuldiger Palästinenser gleichgültig sein, die er als gefährliche Verdächtige behandeln könnte, sondern auch das Leiden unschuldiger Israelis, die verletzt werden könnten, wenn es ihm nicht gelingt, bösartige Passanten zu verdächtigen.

Der Soldat an der Kontrollstelle, welcher glaubt, dass es einen wichtigen Unterschied ausmacht, ob er jemanden als gefährlichen Verdächtigen behandelt oder als einen unschuldigen Bürger, und dass er nicht in der Lage ist, dieser Überzeugung nach zu handeln – muss das eigentliche Herausgreifen betreiben. Er ist wie der Mitspieler in der Show, der lieber die Schachtel mit den $1.000 haben möchte als die leere Schachtel, aber alles, was er tun kann, ist eine Schachtel herauszugreifen und zu hoffen, dass die Konsequenzen seiner Handlung seinen Wünschen entsprechen. 

Zwischen der Show und der Kontrollstelle besteht allerdings ein entscheidender Unterschied: in der Show löst sich die Spannung, wenn die Schachteln geöffnet werden, während an der Kontrollstelle der Soldat selten erfährt, ob seine Handlungen Leben gerettet oder belastet haben. Daher baut sich schnell die Spannung auf, wenn der Soldat hunderte in jeder 8-Stunden-Schicht herausgreift. Die meisten Handlungen des Soldaten haben schwerwiegende moralische Auswirkungen – so viel weiß er. Aber er ignoriert sie. Die Spannung wird unerträglich, ja unermesslich. 

Wurde an der Kontrollstelle wirklich gelacht, brachte ich sie sofort zum Schweigen.

Die Soldaten an der Kontrollstelle kümmern sich um den Unterschied zwischen unschuldigen und feindseligen Palästinensern vielleicht sehr oder überhaupt nicht. Wie auch immer, je öfter Soldaten herausgreifen, desto größer wird der Druck in Richtung der moralischen Abgestumpftheit.

Dass die Macht des Soldaten über jede Regel hinausgeht, macht ihn nicht mächtig, sondern zerstört ihn vielmehr. „Über dem Gesetz“ zu stehen entzieht dem Soldaten seinen geistigen Boden. Gelegentlich wird er mitbekommen, was für ein Mensch er geworden ist: seine Hände, die herrisch deuten „geh weiter,“ „warte dort drüben,“ „sei ruhig,“ „zeig mir dies,“ „zeig mir das“; seine Stimme, die Worte sagt wie „ist mir egal, deine Genehmigung ist abgelaufen,“ „schönen Tag weiterhin,“ „was glaubst du, wohin du gehst?“  

Einige Zeit wird vergehen, ehe es ihm dämmert, dass er durch sein Versagen bei der Unterscheidung zwischen den Feindseligen und den Unschuldigen nicht nur in Hinblick auf seinen Auftrag versagt, sein Land zu verteidigen, sondern auch den Werten und Einstellungen gegenüber versagt, die einzuhalten und nach denen sich zu richten ihm anerzogen worden ist. Aber wie kann das sein, fragt er sich, wenn ich nur tun will, was Recht ist? Er war entschlossen, sein Land zu verteidigen und dabei menschlich zu bleiben und sich nach seinen moralischen Prinzipien zu halten. Wie ist es möglich, dass er in beidem so kläglich scheitern konnte?

Nehmen wir diesen Bericht eines Soldaten, der glaubt, dass Israel sich aus den Territorien zurückziehen sollte:

Ich war an einer Kontrollstelle - einer zeitweiligen, einer sogenannten Würge-Kontrollstelle, es war eine sehr kleine Kontrollstelle, sehr intim, vier Soldaten, kein befehlshabender Offizier, kein Schutz, der diesen Namen verdient hätte, ein richtiger Nebenjob - die den Zugang zu einem Dorf blockierte. Auf der einen Seite eine Kolonne von Fahrzeugen, die hinaus wollen, auf der anderen Seite eine Kolonne von Fahrzeugen, die hinein wollen, insgesamt eine lange Kolonne, und plötzlich verfügst du über eine große Macht in deinen Fingerspitzen, wie bei einem Computerspiel. Ich stehe da, deute auf jemanden, deute ihm, er solle dies oder jenes tun, und du tust dies oder jenes, das Auto startet, fährt auf mich zu, bleibt neben mir stehen. Das nächste Auto folgt, du deutest, es bleibt stehen. Du fängst an, mit ihnen zu spielen wie mit einem Computerspiel. Du kommst her, du fährst dorthin, etwa so. Du bewegst dich kaum, du lässt sie dem Wink deiner Fingerspitze gehorchen. Das ist ein mächtiges Gefühl. So etwas kannst du sonst nirgends erleben. Du weißt, dass das geht, weil du eine Waffe hast, du weißt, dass das funktioniert, weil du ein Soldat bist, du weißt das alles, aber es macht süchtig. Als ich da drauf kam ... ging ich in mich, um zu sehen, was mit mir geschehen war. So ist das. ... Plötzlich bemerke ich, dass ich süchtig danach werde, Menschen zu kontrollieren.

Auch wenn der Soldat es nicht schafft, seinen Werten entsprechend zu handeln, so besitzt er diese doch. Er beschließt, nicht der Gleichgültigkeit zu unterliegen, nicht seine moralischen Gefühle abnützen zu lassen. Er muss sich nicht gewöhnen an das unnötige Leid, das er zwangsläufig mit seiner willkürlichen Ausübung von Macht zufügen muss. Er hält sich fest an der Schuld, wie sich ein Ertrinkender an einen Holzbalken klammert.

Aber da ist nichts mehr, an das er sich klammern könnte. Wenn er auch entschlossen ist, sich schuldig zu fühlen, macht Schuld für ihn keinen Sinn mehr. Entweder fügt er unschuldigen Menschen Leid zu, wobei er in diesem Fall aufhören soll, anstatt sich nur schuldig zu fühlen, oder er tut, wozu er verpflichtet ist, um Leben zu schützen, wobei er sich in diesem Fall in keiner Weise schuldig macht. Jetzt ist Schuld nur mehr reine Scheinheiligkeit, sie wird zur Farce. Im Lauf der Zeit verursacht er immer mehr Leid und hat immer mehr, wofür er sich schuldig fühlen müsste, aber seine Schuld weigert sich, entsprechend schwerer zu werden; er kann nicht länger den ausgeprägten moralischen Schock fühlen, den er gefühlt hat, als er das erste Mal an der Kontrollstelle ankam. Aber kann er moralisch verpflichtet werden, das zu tun, was er tut? Kann Terror seine Berufung sein? 

Er kann davonlaufen, desertieren, in die Berge verschwinden, aus dem Land flüchten. (Diese Alternativen gingen mir immer wieder durch den Kopf in den ruhigen Stunden meiner langen Nachtdienste.) Aber er weiß, was dann passieren wird. Irgendein anderer Soldat wird seine Stelle einnehmen. Einer, der vielleicht brutal sein und noch mehr unnötiges Leid verursachen könnte. Seine Desertion selbst wird nachteilige Folgen haben. Andererseits scheint es absurd zu sein zu glauben, dass das, was er tut, das ist, was er tun sollte – dass unschuldigen Menschen unermessliches und unnötiges Leid zuzufügen letztendlich gut ist.

Drohungen. Den ganzen Tag und die ganze Nacht über erzeugt er Drohungen: er bedroht Menschen, um ihren Willen auszulöschen. Er weiß nicht, worin deren Wille überhaupt besteht. Er kann jetzt fühlen, dass ein Teil von ihnen wünscht, dass er tot sei. „Wenn du nicht deine Waffe hättest und wenn deine Mitsoldaten nicht bei dir wären, würden sie auf dir herumtrampeln,“ sagt ein Soldat aus, „die Scheiße aus dir heraustreten und dich abstechen.“ Er stellt sich vor, dass sie zu hunderten gegen seine Kontrollstelle losgehen: Tischler, Ärzte, Lehrer, Bauern, Mütter, Onkel, Kinder, Großeltern und Liebende. Wie könnten so viele Menschen, Menschen, die ihm tagtäglich in die Augen schauen, wollen, dass er tot ist? Wie sehen ihn die Palästinenser? Er erkennt seinen eigenen Blick nicht, der reflektiert wird von den Scheiben der Autos, die er inspiziert oder beschlagnahmt. Er ist nicht länger er selbst. 

Jetzt, da Schuld unmöglich ist, realisiert der Soldat, dass ein Teil von ihm stirbt. Der Soldat beginnt zu denken, dass er das wirkliche Opfer ist in diesem ganzen Treiben, besonders wo niemand versteht, dass er zwangsläufig scheitern muss, dass ihn seine Macht hilflos macht. Sicher, auch die Palästinenser sind hilflos, aber es ist leicht zu erkennen, dass sie Opfer sind, sagt er sich. Er, der Soldat, ist ein mächtiger Niemand – das ist seine Tragödie.

Die Wut wächst. Palästinenser kommen zu ihm, einer nach dem anderen, den ganzen Tag lang, und bitten ihn, sie durchzulassen. Sagen ihm, dass sie in ihre Schulen kommen müssen, in ihre Universitäten, Krankenhäuser, Arbeitsplätze; sie brauchen Nahrungsmittel; sie wollen ihre Kinder sehen, ihre Eltern; sie müssen zu ihren Begräbnissen gehen und Hochzeiten, Kinder auf die Welt bringen. Aber wie zum Teufel soll er wissen? Wieso glauben sie, dass er den leisesten Anhaltspunkt hat, ob sie seine Kontrollstelle passieren können? Er kann keinen Unterschied zwischen ihnen feststellen; sie verhalten sich alle gleich, nämlich so, wie verängstigte Menschen sich verhalten.

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Er versucht, sich diesem Gedanken zu widersetzen: er weiß, dass sie nicht alle gleich sind. Sie sind individuelle menschliche Wesen, sagt er sich selbst. Ich werde ihnen zeigen, dass ich sie als solche sehe, beschließt er. Er versucht, an der Kontrollstelle höflich und respektvoll zu sein. Den Kindern Süssigkeiten geben, hin und wieder einen Scherz machen. Doch sie sind noch immer gleich. Da gibt es kein Anzeichen für Individualität unter ihnen. Als ich Dienst machte, versuchte ich, ihnen schlechte Witze zu erzählen, um zu sehen, ob sie anders reagierten, wenn die Witze nicht lustig waren. Sie taten´s nicht. Sie lachten genauso. Sie lachten genau so, wie sie dachten, dass ich wollte, wie sie lachen sollten; die Qualität meiner Scherze war ihnen völlig egal. 

Wurde gelegentlich an der Kontrollstelle wirklich gelacht, brachte ich sie sofort zur Ruhe. Ein Soldat kann sich nicht erlauben, dass Dutzende Palästinenser, die in endlosen Reihen stehen, sich so verhalten, wie es ihnen einfällt; es könnte ihnen einfallen, ihn zu attackieren. Ich war es selbst, auf der ganzen Linie: ich stellte ihr Lachen ab, und ich war der Grund für ihre Uniformität.

Die Versuche der Soldaten, sich nach den Palästinensern zu richten, mit denen sie zu tun haben, nehmen verschiedene Formen an. 2001 wurde die Kontrollstelle Jalame im nörlichen Teil der Grenze von vor 1967 von einem Trupp der Golani Infanteriebrigade bemannt. Die Soldaten verlangten, dass Autos 15 m vor dem Punkt anhalten mussten, an dem sie kontrolliert wurden. Es waren Stoptafeln aufgestellt, aber wenn sich keine Autos am Kontrollpunkt befanden, sahen viele Fahrer keinen Grund, bei den Tafeln anzuhalten und fuhren gleich vor zu den Soldaten. Das wurde als Bedrohung der Sicherheit erachtet: die Soldaten mussten bereit sein für die Autos, die zu ihnen vorfuhren.

Im Dezember wurde ein Trupp vom Artilleriekorps abkommandiert, um die Golani-Soldaten zu ersetzen. In der kurzen Zeit, in der beide Trupps gemeinsam dort dienten, erklärten die Golani-Soldaten, dass sie üblicherweise Schockgranaten in Richtung der Autos warfen, die nicht stehenblieben und nicht auf ihr Signal warteten. Das, so dachten die Golani-Soldaten, war eine effiziente Methode, um den Leuten aus der Gegend klar zu machen, dass das Stopzeichen unter allen Umständen beachtet werden musste. Schockgranaten sehen aus wie richtige Handgranaten und erzeugen auch so viel Krach, aber verursachen kaum Schäden. Die Autofahrer, die die Stoptafel missachteten, sahen plötzlich, dass eine Granate auf sie geworfen wurde, ohne zu wissen, dass es nur eine Blendgranate war. Wenn sie einmal den Schrecken durchgemacht hatten, einen plötzlichen und sicheren Tod vor sich zu haben, würden sie nie wieder ohne direkten Befehl über die 15m-Linie fahren. 

Meine Freunde und ich in dem ankommenden Trupp betrachteten diese Prozedur als exzessiv gewalttätig und skrupellos. Wir schrieben sie dem „Mangel an Werten“ der Golani-Soldaten zu und beschlossen, das selbe Ergebnis durch „Erziehung“ der Anwohner zu erreichen. Wann immer ein Fahrzeug ohne direkten Befehl bei den Stopzeichen nicht anhielt, würden wir den Fahrer bestrafen, indem wir ihm befahlen, einige Male vorwärts und rückwärts zu fahren, vom Punkt der Inspektion zur Stoptafel.

Die neue erzieherische Bestrafung hatte keine Wirkung. Mehr und mehr Autos fuhren direkt vor zum Inspektionspunkt, ohne an der Stoptafel zu warten. Die neue Routine funktionierte nicht, weil sie davon ausging, dass durch die Bestrafung der Missetäter wir nicht nur die Zeit der Fahrer verschwenden, sondern auch ihren Stolz verletzen würden. Die Bestrafung wirkte nicht, da die Palästinenser, die durch die Kontrollstelle kamen, das Zurück- und Vorfahren nicht anders betrachteten als die Routine mit den Schockgranaten: als eine erwartete Konsequenz ihres Verhaltens, auf die sie sich gefasst machen mussten, wenn sie das nächste Mal durchfuhren. Mehr war da nicht dabei.  

Wir dachten, dass wir mittels der „Beleidigung“ der Bestrafung den „Schaden“ durch die Schockgranaten setzen könnten. Demütigung, so entschieden wir, wäre der Preis für Ungehorsam. Aber die reine Existenz der Kontrollstelle hatte bereits alle, die durchkamen, ihrer Würde beraubt. Mit vorgehaltener Waffe angehalten zu werden machte das Überleben zu ihrem einzigen Anliegen. Sie waren ihres Selbstrespekts beraubt worden schon lange bevor ihnen befohlen wurde, sinnlos zurück- und vorzufahren. Wir erkannten nicht, dass es da nichts mehr gab, das wir noch demütigen konnten.

Nicht dass die Palästinenser, die durch die Kontrollstelle Jalame kamen, sich geweigert hätten, unsere Überlegenheit anzuerkennen. Im Gegenteil, die Palästinenser unternahmen große Anstrengungen, alles zu tun, was von ihnen verlangt wurde. Aber sie konnten uns nicht als Menschen sehen, die anerkannt werden wollten. Wie im Fall der schlechten Witze reagieren Palästinenser nicht auf die Soldaten selbst, sondern auf Prognosen, was diese als nächstes tun werden. Das Fehlen eines durch Grundsätze geregelten Einsatzes von Gewalt an der Kontrollstelle untergräbt die Möglichkeit der Entstehung von Autorität. So wirksam der Soldat an der Kontrollstelle auch sein mag, die Palästinenser werden ihn nie für mächtig erachten. Wie der Hegel´sche Sklavenhalter werden die Soldaten in den Kontrollstellen die Anerkennung der Palästinenser haben wollen, aber alles, was sie erreichen können, ist deren Angepasstheit.   

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Letztendlich erregt die eigene Macht den Soldaten nicht länger; deren Fehlen beunruhigt ihn. Jemand muss die Macht des Soldaten anerkennen, um ihm das Gefühl der Macht zu geben. Der Gehorsam der Palästinenser taugt nicht mehr, seine Überlegenheit zu bestätigen, aber Bestätigung kann von denen kommen, die seine Machtausübung beobachten: von seinen Mitsoldaten.

So stellt sich die wahre Bedeutung von re’ut heraus, des hebräischen Wortes für “Kameradschaftsgeist.” Der Blick seiner Kameraden bestätigt die Macht des Soldaten, macht sie zu seiner Stärke und bestätigt dadurch seine Existenz, sein Selbst. Folgerichtig werden Bestrafungen zu einem Spektakel. Der Soldat demonstriert seine Macht, damit sie seine Kameraden sehen können: während er Palästinenser für die Bestrafung nur herausgreifen kann, kann er wählen, welche Strafe er verhängt. Kreative Strafen werden geschätzt und diskutiert unter den Soldaten.

Bild 1 / Das Schweigen brechen
Bild 2 / Das Schweigen brechen

Der Soldat auf den beiden Fotos hier (Bild 1 und 2) sammelte Dutzende Fotos von sich selbst mit Palästinensern, die er an Kontrollstellen festnahm. (Er stellte die Fotos für eine Breaking the Silence-Ausstellung im Jahr 2004 über die wirklichen Zustände unter der israelischen Militärherrschaft zur Verfügung.) Auf den meisten Bildern sind die Augen der Festgenommenen verbunden. Es scheint klar, dass in der ersten Szene der Soldat nicht erwartete, die Anerkennung seiner Überlegenheit durch die Festgenommenen zu bekommen. Viel mehr hoffte er, die Anerkennung von seinem angepeilten Publikum, nämlich den Kameraden zu bekommen. Außerdem kam ihm nicht in den Sinn, dass diese Männer unschuldig sein könnten. Den von ihm Herausgegriffenen stand er moralisch gleichgültig gegenüber.

Das zweite Foto mit dem gleichen Soldaten könnte einige Zweifel an meiner Analyse der Kontrollstelle wecken: warum soll die Kontrollstelle nicht gelegentlich nett sein können? In diesem Bild scheint keine Grausamkeit zu stecken. Alle lächeln. Dieses Foto legt nahe, dass sogar an der Kontrollstelle israelische Soldaten und palästinensische Familien ihre Unterschiede überwinden und sich menschlich begegnen können.

Es steckt jedoch keine Freundlichkeit in diesem Bild: die Blicke sind unklar und die Lächeln sind leer. Die Soldaten, die verzweifelt nach einer Gelegenheit suchen vorzuführen, was ihnen selbst befriedigend zu sein scheint, beschließen eine Aufnahme zu machen mit einer palästinensischen Familie, die sich zufällig an der Kontrollstelle befindet. Die Mitglieder der Familie sind bestrebt, sicher und schnell durch die Kontrollstelle zu kommen. Um das zu erreichen, sind sie bereit, auf die Launen der Soldaten einzugehen. Sicher lassen sie sich gerne fotografieren.

So lächelt die Familie gehorsam, ihr Lächeln ist das der Angst und der Bedrängnis; die Soldaten lächeln unbekümmert, ihr Lächeln ist das derjenigen, die das über Bord geworfen haben, von dem sie einmal wussten, das sie es selbst waren.

 
     
  Dieser Artikel erschien in BOSTON REVIEW, Ausgabe Juli/August 2012 > Artikel  
 
siehe dazu im Archiv:
  Ira Chernus - Israelische Soldatinnen brechen das Schweigen
Einen guten Eindruck vermittelt dieses >>> VIDEO (nur englisch)
 
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