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  Mark Twain  
  Briefe von der Erde  
     
 

Satans elfter Brief


Die menschliche Geschichte ist zu allen Zeiten rot von Blut, bitter von Hass und befleckt von Grausamkeit, aber erst seit biblischen Zeiten gab es dabei überhaupt keine Grenze mehr. Sogar die Kirche, der man zugesteht, seit dem Beginn ihrer Vorherrschaft mehr unschuldiges Blut vergossen zu haben, als alle politischen Kriege zusammen, hat sich an Grenzen gehalten. Ein wenig zumindest. Aber man sieht, dass wenn der Herr, der Gott des Himmels und der Erde, der tief verehrte Vater der Menschen in den Krieg zieht, gibt es keine Grenzen. Er kennt keine Gnade – er, der die Quelle der Gnade genannt wird. Er metzelt nieder, nieder, nieder! Alle Männer, alle Tiere, alle Knaben, alle Kleinkinder, ebenso alle Frauen und alle Mädchen, außer jenen, die nicht entjungfert waren.

Er unterscheidet nicht zwischen schuldig und unschuldig. Die Kleinkinder waren unschuldig, die Tiere waren unschuldig, viele der Männer, der Frauen und der Knaben und der Mädchen waren unschuldig, trotzdem mussten sie zusammen mit den Schuldigen leiden. Was der übergeschnappte Vater wollte waren Blut und Elend, es war im egal, wen es traf. Die schwerste aller Strafen war denjenigen zugemessen, die völlig unmöglich ein so furchtbares Schicksal verdient haben konnten – den 32.000 Jungfrauen. Ihre entblößten Geschlechtsteile wurden untersucht, um sicherzustellen, dass ihr Hymen noch unversehrt war; nach dieser Erniedrigung wurden sie aus dem Land, das ihre Heimat war, weggebracht, um in die Sklaverei verkauft zu werden. In die Schlimmste und Schändlichste, in die Sklaverei der Prostitution, als Bettsklavinnen um Lust zu erregen und sie mit ihrem Körper zu befriedigen, Sklavin für jeden Käufer, sei er ein Ehrenmann oder ein grober und schmutziger Rüpel.

Es war der Vater, der diese grausame und unverdiente Strafe über diese hinterbliebenen und freundlichen Jungfrauen verhängte, deren Eltern und Verwandte er vor ihren Augen dahin geschlachtet hatte. Und sie beteten um Erbarmen und Rettung zu ihm? Ganz ohne Zweifel.

Die Jungfrauen waren “Reste“, Raubgut, Beute. Er verlangte seinen Anteil und bekam ihn. Wozu brauchte er Jungfrauen? Das erkennt man, wenn man seine späteren Taten betrachtet.

Auch seine Priester bekamen ihren Anteil an den Jungfrauen. Wozu brauchen Priester Jungfrauen? Die Intimgeschichte der römisch-katholischen Kirche kann auch diese Frage beantworten. Verführung war das Vergnügen der Herren des Beichtstuhls - durch alle Kirchenzeitalter hindurch. Pére Hyacinth bezeugt, dass von 100 Priestern, denen er die Beichte abgenommen hat, 99 den Beichtstuhl erfolgreich dafür einsetzten, verheiratete Frauen und junge Mädchen zu verführen. Ein Priester gab zu, dass von 900 Mädchen und Frauen, denen er einst als Beichtvater diente, außer den Alten und Reizlosen keine seiner lüsternen Umarmung entkamen. Die offizielle Liste der Dinge, die ein Priester fragen muss, wird jede Frau, die nicht gelähmt ist, zur Erregung überwältigen.

Es gibt weder bei den Naturvölkern noch in der Geschichte der Zivilisationen etwas, was radikaler, perfekter, reuelos vollständiger ist, als der Feldzug des Vaters der Gnade gegen die Midianiter. Der offizielle Bericht hält sich nicht mit einzelnen Vorkommnissen, Episoden und kleineren Details auf; er handelt nur von Informationen über Massen: Alle Jungfrauen, alle Männer, alle Kleinkinder, alle “Lebewesen, die atmen“, alle Häuser, alle Städte. Es hinterlässt nur den Eindruck einer gewaltigen Szene die sich hierhin und dorthin in alle Richtungen erstreckt, so weit das Auge reicht, ein Bild niedergebrannter Ruinen, der Zerstörung, wie von einem Sturme. Die Fantasie fügt eine brütende Stille, eine schreckliche Ruhe hinzu – die Ruhe des Todes. Aber natürlich führte das zu Verbrechen. Wo sehen wir das?

In der jüngsten Geschichte. In der Geschichte, der amerikanischen Indianer. Sie haben Gottes Werk kopiert und sind dabei dem Geist Gottes treu geblieben. 1862 erhoben sich die Indianer in Minnesota, die von der Regierung der Vereinigten Staaten böse hereingelegt und entgegen Treu und Glauben behandelt worden waren, wider die weißen Siedler und massakrierten sie, massakrierten jeden, dessen sie habhaft werden konnten, ohne Rücksicht auf Geschlecht oder Alter. Man betrachte folgenden Vorfall:

Zwölf Indianer brachen bei Tagesanbruch in eine Farmhaus ein und nahmen die Familie gefangen. Diese bestand aus dem Farmer und seiner Frau und vier Töchtern, die Jüngste 14, die Älteste 18. sie kreuzigten die Eltern, d.h. sie stellten sie nackt gegen die Wohnzimmerwand und nagelten ihre Hände an die Wand. Dann entkleideten sie die Töchter, warfen sie vor ihren Eltern auf den Boden und vergewaltigten sie mehrmals. Schließlich kreuzigten sie die Mädchen an der Wand, ihren Eltern gegenüber und schnitten ihnen die Nasen und die Brüste ab. Außerdem – ich werde das nicht weiter erörtern. Es gibt eine Grenze. Es gibt Demütigungen, die so scheußlich sind, dass sich einem beim Schreiben die Feder sträubt. Einer aus der gekreuzigten Familie – der Vater – war noch am Leben, als zwei Tage später Hilfe kam.

Nun liegt euch ein Vorfall des Massakers von Minnesota vor. Ich könnte euch 50 berichten. Sie würden alle verschiedenen Arten von Grausamkeiten abdecken, die die furchtbare Erfindungsgabe des Menschen je ersonnen hat.

Durch diesen sicheren Hinweis wisst ihr nun, was unter der persönlichen Leitung des Vaters der Gnaden während des Feldzugs gegen die Midianiter geschah. Der Minnesota Feldzug war lediglich eine Dublette des Midianiter-Überfalls. Nichts passierte bei dem einen, was nicht auch bei dem anderen passierte.

Nein, das stimmt nicht ganz. Die Indianer waren gnädiger als der Vater der Gnaden. Sie verkauften keine Jungfrauen in die Sklaverei, wo sie die Lust der Mörder ihrer Verwandten zu befriedigen hatten und so fortleben mussten; sie vergewaltigten sie und verkürzten großzügig ihr weiteres Leiden, indem sie ihnen die kostbare Gabe des Todes reichten. Sie brannten einige Häuser nieder, aber nicht alle. Sie nahmen die unschuldige, unverständige Brut mit sich, aber sie töteten sie nicht.

Würdet ihr erwarten, dass derselbe gewissenlose Gott, dieser moralisch Bankrotte, ein Lehrer für Moral werden würde, für Freundlichkeit, für Sanftmut, für Rechtschaffenheit oder Reinheit? Es hört sich unmöglich an, überspannt, aber hört ihm zu. Dies sind seine Worte:

Matthäus 5,3-11

3 Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.
4 Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden.
5 Selig, die keine Gewalt anwenden; denn sie werden das Land erben.
6 Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden.
7 Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden.
8 Selig, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott schauen.
9 Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden.
10 Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihnen gehört das Himmelreich.
11 Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet.

 

Der Mund, der diese ungeheueren Sarkasmen hervorbrachte, diese riesige Heuchelei ist der selbe, der das totale Massaker an den midianitischen Männern, Kleinkindern und Vieh anordnete, die totale Zerstörung der Häuser und Städte, die restlose Verbannung der Jungfrauen in schmutzige und unaussprechbare Sklaverei. Es ist dieselbe Person die über die Midianiter die feindseligen Grausamkeiten brachte, die detailgetreu 18 Jahrhunderte später in Minnesota von den Indianern wiederholt wurden.

Die schönen Stellen und die zitierten Stellen aus Numeri und dem Deuteronomium sollten von der Kanzel herab immer zusammen gelesen werden; dann bekäme die Gemeinde einen vollständigen Eindruck unseres Vaters im Himmel. Aber mir ist kein Fall eines Klerikers bekannt, der das je getan hätte.


 
     
     
 
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