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Mark Twain | ||||||||||||||||||||||||
Briefe von der Erde | ||||||||||||||||||||||||
Satans zweiter Brief
"Ich habe euch nichts über
den Menschen gesagt, das nicht wahr ist." Ihr müsst
mir verzeihen, wenn ich diese Bemerkung ab und zu in
diesen Briefen wiederhole; ich möchte, dass ihr meine
Berichte ernst nehmt, und ich meine, wenn ihr an meiner
Stelle wärt und ich an eurer, so würde ich auch so eine
Anmerkung von Zeit zu Zeit brauchen, um meine
Glaubwürdigkeit vor Spott in Schutz zu nehmen. Denn es gibt nichts am Menschen,
was nicht absonderlich wäre für einen
Unsterblichen. Der Mensch betrachtet nichts so, wie
wir es sehen, sein Sinn für Proportionen ist völlig
anders als unserer, und seine Ausdrucksweise ist der
unsrigen so unendlich fremd, dass auch der Klügste von
uns nie imstande wäre, ihn zu begreifen. Nehmen wir zum Beispiel diesen
Fall: Er stellt sich einen Himmel vor, aber schließt aus
ihm den höchsten seiner Genüsse aus, die vorrangigste
Herzenssache jedes Individuums seiner Art und unserer -
den Geschlechtsgenuss! Das ist gerade so, wie wenn einer,
der in der Wüste verirrt und am Verschmachten ist, von
einem Retter zu hören bekommt, er möge sich alle Dinge
wählen und auch haben, die sein Herz begehrt, nur mit
einer einzigen Ausnahme - das Wasser dürfte er nicht
wählen. Sein Himmel ist wie er selbst,
fremd, interessant, erstaunlich, grotesk. Ich gebe
Euch mein Wort, dieser sein Himmel enthält nicht ein
einziges Ding, das er wirklich schätzt. Er besteht --
ganz und gar -- aus Zerstreuungen, von denen er hier auf
der Erde so gut wie nichts hält, ist aber fest
überzeugt, dass er sie im Himmel lieben würde. Ist das
nicht kurios? Ist das nicht interessant? Ihr dürft nicht
denken, ich übertreibe, denn das ist nicht der Fall. Ich
gebe Euch Beispiele. Die meisten Menschen singen
nicht, die meisten können gar nicht singen. Sie bleiben
nicht stehen, wenn andere Menschen mehr als zwei Stunden
hindurch singen. Beachtet das. Nur zwei von hundert können ein
Musikinstrument spielen und nicht vier von hundert wollen
das lernen. Beachtet das. Viele Menschen beten, wenige tun
es gerne. Einige beten lang, andere fassen sich kurz. Weiter. Mehr Menschen gehen in
die Kirchen als nur die, die es eigentlich wollen. Für neunundvierzig von fünfzig
ist der Sonntag eine todlangweilige Angelegenheit. Von allen Menschen, die in der
Kirche sitzen, sind zwei Drittel müde, wenn der
Gottesdienst halb vorbei ist, und der Rest hat es noch
vorm Schluss satt. Der freudigste Moment für alle
ist jener, wenn der Prediger die Hände zum Segen erhebt.
Man kann das sanfte Raunen von Erleichterung hören, die
das Haus erfüllt und du erkennst, dass es beredte
Dankbarkeit ist. Weiter. Alle Völker blicken auf
alle anderen herab. Alle Völker mögen alle anderen nicht leiden. Alle weißen Völker verachten
die farbigen, gleichgültig welcher Hautfarbe, und
unterdrücken sie, wo sie können. Weiße Menschen verkehren nicht mit den "Niggern," heiraten sie schon gar nicht. Sie lassen sie nicht in ihre Schulen und Kirchen. Alle Welt hasst die Juden und
duldet sie nicht, außer wenn sie reich sind. Bitte merkt Euch alle diese
Beispiele. Weiter: Alle vernünftigen
Menschen verabscheuen Lärm. Alle Menschen, vernünftig
oder nicht, verlangen nach Abwechslung in ihrem Leben.
Eintönigkeit geht ihnen auf die Nerven. Jedermann betätigt je nach der
geistigen Begabung, die ihm zugeteilt wurde, seinen
Verstand ständig und unablässig, und aus dieser
Betätigung besteht ein großer und wesentlicher Teil
seines Lebens. Noch der geringste Verstand, wie auch der
höchste besitzt eine Reihe von Fähigkeiten und er macht
sich einen hübschen Spaß daraus, sie zu testen,
vorzuführen und zu perfektionieren. Der Bengel, der
seinen Spielgefährten im Spiel überlegen ist, ist so
emsig und so enthusiastisch bei der Sache wie der
Bildhauer, der Maler, der Musiker, der Mathematiker.
Nicht einer von denen könnte glücklich sein, wenn sein
Talent unterdrückt würde. Nun denn, ihr kennt jetzt die
Fakten. Ihr wisst, was die Menschen mögen und was nicht. Sie haben einen Himmel erfunden,
rein aus der Luft gegriffen, ganz allein. Und nur ratet,
wie er beschaffen ist! In fünfzehnhundert Ewigkeiten
würdet ihr nicht drauf kommen. Der findigste Kopf, der
Euch oder mir bekannt ist, würde in fünfzig Millionen
Äoen nicht drauf kommen. Nun gut, ich will ihn Euch
schildern. Erstens. Zu allererst erinnert
Euch noch mal an die tolle Tatsache, mit der ich begonnen
habe. Bedenkt, dass der Mensch, ebenso wie der
Unsterbliche ganz natürlich den Geschlechtsgenuss weit
über alle anderen Freuden stellt -- und ihn dennoch in
seinem Himmel vollständig ausschaltet! Der bloße
Gedanke daran erregt ihn, die bloße Gelegenheit macht
ihn wild; in diesem Zustand riskiert er sein Leben, seine
Reputation, alles -- sogar seinen verrückten Himmel --
um nur eine gute Gelegenheit zu nutzen und sich bis zum
Orgasmus zu steigern. Ob jung ob alt, alle Männer und
Frauen stellen den Beischlaf über alle anderen Genüsse
zusammengenommen, und doch ist es so, wie ich schon
sagte: in ihrem Himmel gibt es ihn nicht - an seine
Stelle tritt das Gebet. Sie preisen es in den höchsten
Tönen und doch ist es, wie alle ihre sogenannten
"höheren Werte" eine armselige Sache. Auch das
beste und längste ist noch unter allen Begriffen kurz -
den Begriffen der Unsterblichen. In Sachen der
Wiederholung ist der Mensch sehr begrenzt - oh weit
unterhalb der Konstitution der Unsterblichen. Wer den Akt
des Gebetes und seine höchste Extase ungebrochen und
fortwährend über Jahrhunderte zu vollziehen vermag,
kennt kein Begreifen und kein angemessenes Mitleid für
die furchtbare Armseligkeit jener reichen Gaben, vor der
so, wie wir sie besitzen, aller andere Besitz trivial ist
und die Mühe nicht wert, ihn mitzuzählen. Zweitens. In dem Himmel der
Menschen singt jeder! Wer auf Erden nie gesungen hat,
hier singt er, und wer auf Erden nicht singen konnte,
hier kann er´s. Der himmlische Gesang ist nicht
beiläufig und gelegentlich, auch nicht von
Zwischenräumen der Stille gemildert, sondern er dauert
an, den ganzen langen Tag, tagtäglich zwölf Stunden
lang. Und jeder bleibt, wogegen auf der Erde der Platz
nach zwei Stunden leer wäre. Der Gesang besteht
ausschließlich aus Hymnen. Oder vielmehr aus einer
einzigen Hymne. Der Text ist stets der gleiche, es
sind nur ein Dutzend Wörter, es ist auch kein Reim darin,
keine Poesie: "Hosiannah, Hosiannah,
gelobt seist du Gott Sabaoth, Rhabarber, Rhabarber,
Rhabarber ...!" Drittens. Jede Person spielt auf
einer Harfe - Millionen und Aber-Millionen! - Während
auf der Erde nicht mehr als Zwanzig von Tausend dieses
Instrument beherrschen oder jemals spielen wollen. Man stelle sich nur den
ohrenbetäubenden Sturmwind von Lärm vor: Millionen und
Aber-Millionen von gleichzeitig kreischenden Stimmen und
Millionen und Aber-Millionen von Harfen, die zur gleichen
Zeit gezupft werden. Ich frage Euch: Ist das wohl hässlich?
Ekelhaft? Abscheulich? Und stellt Euch folgendes vor. Es
ist ein Lobgesang, ein Dankgottesdienst, eineBekundung
von Schmeichelei und Verehrung. Man fragt sich wer es nun
eigentlich sei, der diese abstruse Speichelleckerei
duldet, und nicht nur duldet, sondern sie genießt, sie
erbittet, sie fordert? Es verschlägt einem die
Sprache. Denn es ist Gott! Ich meine: der
Gott dieser Menschheit. Er sitzt auf seinem Thron, ihm
zur Seite sitzen seine vierundzwanzig Ältesten und
einige andere Würdenträger, die zu seinem Gerichtshof
gehören, die über unzählige begeisterte Anbeter
blicken und er lächelt, und brummt und verneigt sich
voll Zufriedenheit nordwärts, ostwärts, südwärts; ein
Spekakel so drollig und naiv, wie es im Weltenall, sollte
ich meinen, noch nicht da war. Es ist leicht zu sehen, dass der
Erfinder dieses Himmels sich diese Idee nicht selbst
ausgedacht, sondern von dem Gepränge irgend eines
albernen Herrschers im hintersten Orient übernommen hat. Alle vernünftigen Leute hassen
Lärm, und doch nehmen sie stillschweigend diese Art eines
Himmels an - ohne darüber nachzudenken, zu hinterfragen,
zu prüfen - und sie wünschen sich allen Ernstes in ihn
hinein! Tief ehrwürdige, grauhaarige alte Männer
verwenden viel Zeit ihres Lebens darauf, von jenem
glücklichen Tag zu träumen, an dem sie die Sorgen ihres
Daseins niederlegen und in die Freuden dieses Ortes
eintreten. Und doch kann man sehen, wie unwirklich das
Ganze für sie ist und wie wenig es sie als Tatsache
ergreift, denn sie treffen gar keine praktischen
Vorbereitung für die große Umstellung: niemals sieht
man einen von ihnen auf einer Harfe üben, nie hört man
ihn sich im Singen versuchen. Wie ihr gesehen habt ist diese
einzigartige Show ein Lobgottesdienst. Lob und Preis
durch Hymne und Demütigung. Es nimmt dieser die Stelle
der sogenanntenKirche ein. Auf der Erde sind die Leute
nicht imstande, vielen Kirchenbesuch zu ertragen - ein
ein-viertel Stunden sind das Limit, und das höchstens
einmal in der Woche, nämlich am Sonntag. Einen von
siebenTagen, und selbst da freuen sie sich nicht darauf.
Und nun bedenke man, was der Himmel für sie in
Bereitschaft hält: Kirche für immer und ewig, ein
Sonntag ohne Ende. Sie haben schnell ihren irdischen
allwöchentlichen Sabbat satt, aber sie warten
sehnsüchtig auf einen, der ewig andauert. Sie träumen
von ihm, sie reden darüber, glauben wahrhaftig, sie
fänden ihre Seligkeit darin - mit aller Inbrunst denken
sie, dass sie dächten, dort glücklich zu werden! Das kommt daher, dass sie
überhaupt nicht nachdenken, sie glauben bloß, dass sie
dächten. Sie können auch gar nicht denken, nicht
zwei menschliche Wesen unter zehntausend haben etwas,
womit sie denken könnten. Und was ihr Vorstellungsvermögen
angeht, nun, da sehe man nur ihren Himmel! Sie
akzeptieren ihn, sie ersehnen ihn, sie bewundern ihn. Daraus
ermesse man ihren Grad der Intelligenz. Viertens. Der Erfinder ihres
Himmels öffnet ihn für alle Völker der Erde, ein
einziges Durcheinander. Alle sind einander absolut
gleich, keiner kommt vor oder nach einem anderen, sie
haben Brüder zu sein, miteinander umzugehen, zusammen zu
beten, die Harfe zu spielen, Hosiannah zu rufen, Weiße,
Nigger, Juden, alle ohne Unterschied. Hier auf Erden
hassen sie einander, und alle zusammen hassen sie die
Juden. Doch jeder fromme Mensch bewundert diesen Himmel
und möchte dort hin. Ja wirklich. Und wenn er in einen
heiligen Rausch gerät, denkt er, wenn er erst dort
wäre, würde er alle Menschheit an sein Herz nehmen und
sie umarmen und umarmen und umarmen. Er ist schon ein Prunkstück-
dieser Mensch! Wüsste ich nur, wer ihn erfunden hat! Fünftens. Jeder Mensch verfügt
über ein bestimmtes Quantum Verstand, groß oder klein,
und, ob groß oder klein, er ist stolz darauf. Und seine
Brust schwillt an, wenn er die Namen der majestätischen
Geistesgrößen seiner Rasse nennt und in die Geschichten
ihrer Leistungen ist er vernarrt. Denn er ist ihres Blutes
und an ihrem Ruhm hat er mit teil. Seht, ruft er aus, was
der Geist der Menschen vermag! Und er sagt die Liste der
großen Menschen her und zeigt auf die unsterbliche
Literatur, die sie der Welt gegeben haben, und die
mechanischen Wunderwerke, die sie erfunden haben und den
Ruhm, mit dem sie die Wissenschaft und die Künste
bekleidet haben. Und vor ihnen verneigt er sich wie vor
Königen und erweist ihnen die tiefste und aufrichtigste
Ehrenbezeugung, die sein Gemüt zu empfinden vermag, und
solcherart hebt er den Verstand über alle andere auf der
Welt und erhebt ihn in den Olymp - unerreichbar. Und
dann zimmert er sich einen Himmel, der nirgends auch nur
eine Spur von Verstand enthält. Ist das wohl verrückt, kurios,
verblüffend? Es ist genau so wie ich es euch gesagt
habe, so unglaublich es auch klingen mag. Dieser
aufrichtige Bewunderer des Intellekts und freigiebige
Belohner seiner mächtigen Rolle hier auf Erden hat sich
eine Religion und einen Himmel ausgedacht, der den
Verstand überhaupt nicht würdigt, der überhaupt keine
Abwechslung bietet, der dem Intellekt überhaupt keinen
Raum einräumt, ja diesen gar nicht erwähnt. Spätestens jetzt habt ihr wohl
gemerkt, dass der Himmel der menschlichen Wesen erdacht
und konstruiert wurde nach einem absolut vorgegebenen
Plan, und dieser Plan schreibt vor, dass er in jeglicher
Einzelheit jegliches vorstellbare Merkmal enthält, das
dem Menschen abstoßend, und nicht einziges das ihm lieb
ist. Nun gut, je weiter wir vordringen,
desto deutlicher wird diese kuriose Tatsache hervortreten. Merkt Euch: im Himmel des
Menschen betätigt sich der Verstand nicht und hat
nichts, wovon er zehren kann. Binnen Jahresfrist muss er
dort verrotten. Verrotten und stinken - Verrotten und
stinken - und in diesem Zustand heilig werden. Ein
segensreicher Vorgang, denn nur ein Heiliger kann die
Freuden dieses Irrenhauses ertragen.
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