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Die Zeit ist reifNeue Forderungen ehemaliger britischer Kolonien nach Entschädigung für Sklavenhandel und koloniales Unrecht setzen indirekt auch Berlin wegen früherer deutscher Kolonialverbrechen Genozid, Vernichtungskrieg unter Druck.German Foreign Policy
Neue Forderungen ehemaliger britischer Kolonien nach Reparationen für Sklaverei und für koloniales Unrecht erhöhen indirekt auch den Druck auf Berlin zur Zahlung von Entschädigung für deutsche Kolonialverbrechen. Am Samstag hat der Commonwealth of Nations, dem vor allem ehemalige britische Kolonien angehören, auf seinem Gipfeltreffen eine Erklärung verabschiedet, in der er ein Gespräch über eine gemeinsame Zukunft verlangt, die auf Gleichheit beruht. Hinter der nebulösen Formulierung verbirgt sich das Dringen einer wachsenden Zahl ehemaliger Kolonien auf Entschädigungen, das die Regierung in London unter Premierminister Keir Starmer nicht mehr zu unterdrücken vermag. Allein für die Karibik ist von Reparationen in Höhe von über 200 Milliarden Pfund die Rede. Auch der Druck auf Frankreich, für Kolonialverbrechen materiell einzustehen, nimmt zu. Von Deutschland wiederum verlangen Nachkommen von Überlebenden des Genozids in Namibia sowie von Überlebenden des Vernichtungskriegs in Tansania mit bis zu 300.000 Todesopern Entschädigung. Die Bundesregierung verweigert dies bis heute auch unter Rückgriff auf kolonialrassistische Argumentationen.
Ausgleichende Gerechtigkeit
Die 56 Staaten des Commonwealth of Nations haben auf ihrem am Samstag zu Ende gegangenen Gipfeltreffen den Einstieg in eine gemeinsame Debatte über Entschädigung für den Sklavenhandel wie auch für weiteres koloniales Unrecht beschlossen. Wie es in der Abschlusserklärung des Gipfels heißt, teilten die meisten Mitgliedstaaten gemeinsame geschichtliche Erfahrungen bezüglich des abscheulichen transatlantischen Sklavenhandels wie auch der Sklaverei an sich, die dauerhafte Auswirkungen auf die Bevölkerungen der betroffenen Länder hervorgebracht hätten.[1] Das Dokument beklagt außerdem die Praxis des sogenannten Blackbirdings, der Verschleppung indigener Bewohner der südpazifischen Inselwelt, die zur Zwangsarbeit für die britischen Kolonialherren herangezogen wurden, etwa auf Fidschi und Samoa oder in Australien. Die Commonwealth-Staats- und Regierungschefs hätten die Rufe nach Debatten über ausgleichende Gerechtigkeit mit Blick auf den Sklavenhandel und die Sklaverei zur Kenntnis genommen, heißt es in der Gipfelerklärung weiter, und sie stimmten zu, dass die Zeit für ein ernsthaftes, wahrhaftiges und respektvolles Gespräch über eine gemeinsame Zukunft, die auf Gleichheit beruht, gekommen sei. Man werde eine aktive Rolle bei der Anbahnung solcher Gespräche spielen.
Forderungen an Großbritannien
Der Beschluss der Commonwealth-Staats- und Regierungschefs ist gegen den erklärten Willen der britischen Regierung zustandegekommen. Noch unmittelbar vor dem Gipfel hatte Großbritanniens Premierminister Keir Starmer angekündigt, die Entschädigungsfrage werde nicht in der Abschlusserklärung des Treffens in Apia, der Hauptstadt des Pazifikstaates Samoa, stehen. Londons Position sei glasklar, hatte ein Sprecher mitgeteilt; man sei nicht zu Entschädigungen welcher Art auch immer bereit.[2] Dies gelte auch für ausgleichende Gerechtigkeit in nicht-finanzieller, also kostenloser, symbolischer Form. König Charles III. hatte diese Haltung mit der Äußerung leicht abzufedern versucht, es gebe schmerzliche Aspekte in der britischen Geschichte; zwar könne niemand die Vergangenheit ändern, doch sei es jederzeit möglich, aus ihr für die Zukunft zu lernen.[3] Die britische Blockade scheiterte letztlich an der Entschlossenheit der ehemaligen Kolonien, die außerdem keinen Zweifel daran ließen, bei den künftigen Gesprächen werde es um konkrete Entschädigung für koloniales Unrecht gehen. Laut Berechnungen des Rektors des renommierten Trinity College in Cambridge, Michael Banner, lässt sich Großbritanniens Schuld alleine gegenüber der Karibik, lediglich auf den Sklavenhandel bezogen, auf mehr als 200 Milliarden Pfund beziffern.[4]
Forderungen an Frankreich
Auch gegenüber Frankreich nehmen die Forderungen nach Reparationen für die Sklaverei sowie für koloniales Unrecht zu. Dies gilt zum Beispiel für die Karibikinseln Martinique und Guadeloupe; nach Berechnungen der US-Beratungsfirma Brattle Group müsste Frankreich knapp 9,3 Milliarden US-Dollar zahlen, um die beiden Inseln und Französisch-Guyana alle drei zählen heute zum französischen Territorium sowie die Karibikinsel Grenada, die eine Zeitlang französische Kolonie war, zu entschädigen.[5] Klagen diesbezüglich beschäftigen längst auch die französische Justiz. Inzwischen verlangt auch Haiti Entschädigung von Paris. Gegenstand sind die immensen Gelder, die das Land ab 1825 an Frankreich zahlen musste als Gegenleistung dafür, dass Paris Haitis hart erkämpfte Unabhängigkeit von der vormaligen Kolonialmacht anerkannte. Die Zahlungen lasteten extrem schwer auf dem Land; sie wurden erst 1947 endgültig beendet und beliefen sich zeitweise auf etwa 80 Prozent des Haushalts der Regierung in Port-au-Prince.[6] Eine gedeihliche Entwicklung war für Haiti damit in der Praxis unmöglich. Am 26. September 2024 forderte Edgard Leblanc Fils, damals Präsident des Übergangsrats, vor der UN-Generalversammlung Frankreich zur Zahlung gerechter und angemessener Reparationen auf.[7]
Forderungen an Deutschland
Deutschland ist ebenfalls bereits seit Jahren mit Entschädigungsforderungen seiner früheren Kolonien konfrontiert. Dies gilt insbesondere für Namibia, wo das Deutsche Reich von 1904 bis 1908 einen Genozid an den Herero und Nama verübte. Namibia versucht bereits seit den 1990er Jahren, von der Bundesrepublik eine Entschädigung für das Massenverbrechen zu erhalten, konnte sich jedoch weder mit seinen anfänglichen Bemühungen um eine politische Einigung durchsetzen noch mit den folgenden Bestrebungen insbesondere der Herero und Nama, auf dem Rechtsweg Fortschritte zu erzielen. Der Konflikt dauert an. Inzwischen üben sogar mehrere Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen scharfe Kritik an Berlin, das sich bei seiner Abwehr von Entschädigungsforderungen auf offen kolonialrassistische Argumentationen aus der Ära des Deutschen Kaiserreichs stützt (german-foreign-policy.com berichtete [8]). Hinzu kommen inzwischen auch Entschädigungsforderungen aus Tansania. Dort führten die Truppen des Deutschen Reichs ab 1905 einen Vernichtungskrieg gegen die einheimische Bevölkerung, in dem sie bis 1908 bis zu 300.000 Menschen zu Tode brachten (german-foreign-policy.com berichtete [9]). Berlin sucht bislang alle Forderungen mit unverbindlichen Betroffenheitsfloskeln zum Schweigen zu bringen.[10]
Der Aufstieg des Südens
Mit den Entschädigungsforderungen streben die früheren Kolonien einen Ausgleich für die Verbrechen und für die Ausbeutung an, mit denen sie durch die ehemaligen Kolonialmächte so schwer geschädigt wurden, dass ihnen der Aufstieg zu ökonomischem Wohlstand und zu sozialem Wohlergehen nur in den seltensten Fällen möglich war. Die Forderungen kommen dabei zu einer Zeit, in der sich der Globale Süden die ehemaligen Kolonien in ihrer Gesamtheit zum ersten Mal seit der Kolonialära in einem Aufschwung befindet, der stark genug scheint, die Dominanz des Westens der Gesamtheit der einstigen Kolonialmächte zu brechen. Der Westen wiederum sucht seine Dominanz mit allen Mitteln zu wahren (german-foreign-policy.com berichtete [11]).
Berlin zahlt nichts
Im Falle Deutschlands kommen punktuelle Entschädigungsforderungen hinzu, die die Massenverbrechen des Deutschen Reichs insbesondere im Zweiten Weltkrieg betreffen; sie trafen vor allem die jüdische Bevölkerung Europas, außerdem zahlreiche Nachbarstaaten ganz besonders die östlichen wie Polen, Jugoslawien und die Sowjetunion, die das Reich mit einem massenmörderischen Vernichtungskrieg überzog. Über Kontinuitäten zwischen den kolonialen Vernichtungskriegen in Namibia (Deutsch-Südwestafrika), in Tansania (Deutsch-Ostafrika) oder auch China (german-foreign-policy.com berichtete [12]) und dem deutschen Vernichtungskrieg in Osteuropa wird unter Wissenschaftlern längst diskutiert.[13] Davon unabhängig gilt: Sogar die NS-Menschheitsverbrechen sind zum überwiegenden Teil materiell ungesühnt geblieben. Deutschland gibt sich nach außen demonstrativ zerknirscht, um Unmut abzuwehren, verweigert jedoch konsequent alle realen Entschädigungen, um seinen eigenen Wohlstand zu wahren (german-foreign-policy.com berichtete [14]).
[1] Eleni Courea, Geneva Abdul: Time has come: Commonwealth heads agree to reparatory justice dialogue despite reluctant UK. theguardian.com 26.10.2024. [2], [3] Aamna Mohdin: Labour MPs urge Keir Starmer to clarify stance on non-cash slavery reparations. theguardian.com 25.10.2024. [4] Geraldine Scott: Keir Starmer forced into promise of slavery reparation talks. thetimes.com 26.10.2024. [5] Verene Shepherd: Les Caraïbes plaident pour une justice réparatrice. courier.unesco.org 21.06.2024. [6] Jon Henley: Haiti: a long descent to hell. theguardian.com 14.01.2010. [7] Charly Hessoun: France : à lONU, Haïti demande le remboursement de la dette dindépendance. lanouvelletribune.info 29.09.2024. [8] S. dazu Kolonialrassismus vor Gericht. [9] S. dazu Rezension: Aert van Riel: Der verschwiegene Völkermord. [10] Henriette Seydel: Bis heute traumatisch. Maji-Maji: Verdrängter Genozid oder erinnerter Widerstand? iz3w.org 20.06.2024. S. auch Die doppelten Standards der Kolonialmächte. [11] S. auch Koloniale Denkschablonen. [12] S. dazu Die Lehren der Geschichte (I) und Die Lehren der Geschichte (II). [13] Frank Bajohr, Rachel OSullivan: Holocaust, Kolonialismus und NS-Imperialismus. bpb.de 21.04.2022. [14] S. dazu Billiges Gedenken. |
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erschienen am 28. Oktober 2024 auf > GERMAN-FOREIGN-POLICY > Artikel | ||||||||||||||
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