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Die Folgen
der 'Befreiung' German Foreign Policy
KIEW/BERLIN (Eigener Bericht) - Fast zwei Jahre nach dem von Berlin unterstützten Umsturz in Kiew ziehen Experten eine gleich in mehrfacher Hinsicht verheerende Bilanz der Entwicklung in der Ukraine. Das belegen aktuelle Studien in den an der Universität Bremen publizierten "Ukraine-Analysen". Demnach ist die Wirtschaft des prowestlich gewendeten Landes katastrophal eingebrochen und droht aufgrund der politischen Unwägbarkeiten noch weiter abzustürzen. Die Krise hat zu einem Rückgang der Reallöhne um mehr als 30 Prozent geführt; die Preise für Lebensmittel sind im laufenden Jahr um 34 Prozent gestiegen, die Wohnkosten haben sich seit der Unterstellung des Landes unter westliche Dominanz verdoppelt. Ein Drittel der Ukrainer kann sich die notwendigen Nahrungsmittel nicht mehr leisten; lediglich der Konsum von Brot und Kartoffeln bleibt annähernd konstant. Gleichzeitig dauern Nepotismus und Korruption auch unter der neuen Regierung an und drohen breite Proteste hervorzurufen. Weniger als ein Drittel der Bevölkerung äußert noch "Vertrauen" gegenüber Staatspräsident Petro Poroschenko; seine "Vertrauensbalance", die statistische Differenz zwischen Zustimmung und Ablehnung, liegt noch unter derjenigen für Staatspräsident Wiktor Janukowitsch im Dezember 2013. Die "Vertrauensbalance" für Regierung und Parlament hat sogar ein - unter Janukowitsch nie gekanntes - Langzeittief erreicht.
Ökonomisch abgestürzt Fast zwei Jahre nach dem von Berlin unterstützten Umsturz in Kiew bilanzieren Experten in den an der Universität Bremen publizierten Ukraine-Analysen die Entwicklung des Landes. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Die ökonomische Lage ist desaströs. Das ukrainische Bruttoinlandsprodukt, das bereits 2014 um 6,8 Prozent eingebrochen ist, stürzt noch weiter ab; Fachleute schätzen den Rückgang im Jahr 2015 auf um die elf Prozent. Im kommenden Jahr könne es eventuell wieder ein leichtes Wachstum zwischen einem und zwei Prozent geben, heißt es - dies aber nur dann, wenn es nicht erneut zu politischen Erschütterungen komme, etwa zu einem Bruch des Waffenstillstands im Osten der Ukraine. Dies allerdings sei ziemlich ungewiss. Ein hoher Schuldenstand belastet das Land; eine Zunahme ausländischer Direktinvestitionen halten Experten "angesichts der noch sehr fragilen Gesamtlage" für "derzeit nicht realistisch". "Westliche Banken" zögen sich im Gegenteil "weiterhin eher aus dem Land zurück". Die Entwicklung der Exporte sei ernüchternd. Während die Ausfuhren nach Russland stark eingebrochen seien, habe "der einseitig gewährte Marktzugang in die EU" bislang nichts eingebracht; der ukrainischen Wirtschaft fehlten vor allem "in der Breite wettbewerbsfähige Produkte für den EU-Binnenmarkt". Immerhin sei es gelungen, das Außenhandelsdefizit zu senken: Die massive Abwertung der Hrywnja habe ausländische Waren so stark verteuert, dass ihr Absatz und damit auch der Gesamtimport dramatisch eingebrochen sei und das niedrige Niveau der Exporte nicht mehr nennenswert übersteige.[1]
Extreme Armut Die sozialen Folgen des ökonomischen Zusammenbruchs sind verheerend. "Laut Angaben des ukrainischen Statistikamtes haben sich die Reallöhne in der Ukraine seit Ende 2013 um mehr als 30 Prozent verringert", heißt es in den Ukraine-Analysen. Der monatliche Durchschnittslohn ist von rund 280 Euro im Jahr 2013 auf 156 Euro im Oktober 2015 gefallen. Jeder zehnte Ukrainer muss sich mit einem Einkommen unterhalb des offiziellen Existenzminimums (54 Euro) begnügen, das allerdings nach allgemeiner Auffassung auch nicht annähernd zum Überleben ausreicht. Weil die Durchschnittsrente (79 Euro) ebenfalls kein Auskommen ermöglicht, ist Erwerbsarbeit unter Rentnern verbreitet. Dabei wird arbeitenden Pensionären seit April 2015 die Rente um 15 Prozent gekürzt. Oft werden Löhne nur mit Verspätung oder gar nicht gezahlt; der Lohnrückstand hat sich im Verlauf des Jahres 2014 verfünffacht. Die Ukraine-Analysen resümieren: "Das Ausmaß der extremen Armut ist dramatisch gestiegen." Besonders betroffen seien neben den Rentnern "kinderreiche Familien und die ländliche Bevölkerung".[2]
Brot und Kartoffeln Schwer wiegt im Alltag vor allem die dramatische Teuerung bei Nahrungsmitteln, Medikamenten, Wasser und Heizung. Offiziellen Angaben zufolge stiegen die Lebensmittelpreise im Jahr 2014 um rund 25 Prozent; dieses Jahr ist sogar ein Anstieg um 34 Prozent zu verzeichnen. "Umfragedaten weisen darauf hin, dass die Menschen ihren Konsum entsprechend verringern", heißt es in den Ukraine-Analysen: "Es werden insgesamt weniger Obst, Fleisch, Fisch, Eier, Zucker, Milchprodukte und andere Lebensmittel konsumiert"; lediglich der Verbrauch von Brot und Kartoffeln bleibe "relativ unverändert". "Etwa einem Drittel der Bevölkerung" fehle "die Möglichkeit, notwendige Nahrungsmittel zu kaufen"; dabei könnten sich "Familien mit Kindern insgesamt weitaus weniger Lebensmittel pro Person leisten als Familien ohne Kinder". Die Preise von Medikamenten und anderen Produkten der medizinischen Versorgung seien ebenfalls um mehr als 30 Prozent gestiegen. Strom und Wasser seien um 50 bis 70 Prozent teurer geworden, Gas koste mittlerweile dreimal so viel wie 2013. Im Ergebnis hätten sich "die Wohnkosten fast verdoppelt". "Vor dem Hintergrund schleppender Reformen", urteilt eine Expertin, "kann ein weiteres Absinken des Lebensstandards zu sozialen Spannungen im Land führen."[3]
Oligarchen und Korruption Umso schwerer wiegt, dass nicht einmal die auf dem Majdan breit geforderte und von der Kiewer Umsturzregierung lautstark angekündigte Bekämpfung der Korruption wirklich Fortschritte erzielt. Staatspräsident der prowestlich gewendeten Ukraine ist ein Oligarch, der neue Ministerpräsident entstammt dem alten ukrainischen Polit-Establishment.[4] Das am 16. Oktober 2014 in Kraft getretene Gesetz "Über die Säuberung des Regierungsapparates", das die Korruption habe beseitigen sollen, habe sich als überaus problematisch erwiesen, heißt es in den Ukraine-Analysen. Es widerspreche zentralen Richtlinien des Europarats und führe nicht zum Ziel. "Nepotismus und Korruption" grassierten weiter; "zudem zeugt die selektive Anwendung des Gesetzes vor allem davon, dass politische Zweckmäßigkeiten und persönliche Ergebenheiten bei der Postmaidanregierung weiter Vorrang vor Verfassung und Gesetz haben". "Mehr als zwei Drittel der Ukrainer waren im Juni ... davon überzeugt, dass die Regierung die Lustration nur imitiert", heißt es, "und weitere 16 Prozent bezweifelten, dass überhaupt eine Form von 'Reinigung' des Staatsapparates stattfinde". Der "Unmut" wachse und werde sich möglicherweise auch in Protesten artikulieren - "vor allem angesichts der beständig schlechten wirtschaftlichen Lage ohne Aussicht auf spürbare Verbesserungen in absehbarer Zeit".[5]
Die Vertrauensbalance Wie groß das Protestpotenzial in der Ukraine ist, das sich gegenwärtig noch durch Agitation gegen Russland weitgehend nach außen ablenken lässt, zeigen jüngste Umfragen in der Bevölkerung zum "Vertrauen in die politischen Institutionen". Die Umfragen können nicht in den Verdacht gerückt werden, von Russland nahestehenden Kräften frisiert worden zu sein: Sie stammen von zwei bekannten prowestlichen Instituten und sind in den keinesfalls prorussischen Ukraine-Analysen abgedruckt worden.[6] Ihnen zufolge erklärten im Sommer 2015 29,5 Prozent der Ukrainer, sie vertrauten Staatspräsident Petro Poroschenko, während 62,5 Prozent dies verneinten. Die "Vertrauensbalance" - eine statistische Größe, die von der Zustimmung die Ablehnung abzieht - lag damit für Poroschenko bei minus 33 Prozent, klar unterhalb des Vergleichswerts für den damaligen Staatspräsidenten Wiktor Janukowitsch im Dezember 2013 (minus 27 Prozent). Die "Vertrauensbalance" für die ukrainische Regierung (minus 56 Prozent) und diejenige für das Parlament (minus 63 Prozent) haben heute - unter Janukowitsch nie dagewesene - Minusrekorde erreicht. Gleiches gilt für Polizei (minus 57 Prozent), Gerichte (minus 67 Prozent) und Staatsanwaltschaft (minus 67 Prozent). Sogar die "Vertrauensbalance" der ukrainischen Medien, die unter Janukowitsch stets bei plus 20 Prozent oder mehr gelegen hatte, näherte sich im Juli dem Nullpunkt und ist inzwischen womöglich sogar ins Minus gerutscht. Zu den wenigen Institutionen, die noch über eine positive "Vertrauensbalance" verfügen, gehören neben der Kirche (34 Prozent) vor allem die Freiwilligenbataillone (16 Prozent), also tendenziell reaktionäre und - im Falle der Bataillone - nationalistische und in Teilen faschistische Kräfte, auf denen in der prowestlich gewendeten Ukraine das letzte Vertrauen der Bevölkerung ruht.
Mehr zur deutschen Ukraine-Politik: Faschisten als Vorbild, Widerspenstige Kollaborateure, Ein Misstrauensreferendum, Kontrollmission in Kiew, Die Belagerung der Krim (I) und Die Belagerung der Krim (II). [1] Gunter Deuber,
Andreas Schwabe: Äußerst verhaltener
Wirtschaftsausblick zwei Jahre nach dem Maidan. In:
Ukraine-Analysen Nr. 161, 7-13. |
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erschienen am 16. Dezember 2015 auf > German Foreign Policy > Artikel | ||||||||||||||||||
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