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Mehr Punk, weniger Hölle!In Island fand ein einzigartiges politisches Experiment statt: Vier Jahre lang regierten Anarchisten die Hauptstadt Reykjavik. Und diese Amateure haben Erstaunliches vollbracht. |
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Mehr Punk, weniger Hölle! In Island fand ein einzigartiges politisches Experiment statt: Vier Jahre lang regierten Anarchisten die Hauptstadt Reykjavik. Und diese Amateure haben Erstaunliches vollbracht. Von Constantin Seibt, Reykjavik Aktualisiert: 30.05.2014, 07:51 Sein Wahlprogramm beinhaltete unter anderem Gratishandtücher für alle Schwimmbäder und einen Eisbären für den Zoo der Stadt: Reykjaviks Bürgermeister Jón Gnarr in seinem Büro (4. August 2010). Als die Stimmen ausgezählt waren, sagte die Premierministerin von Island, das Ergebnis sei ein «Schock». Den Schock teilten an diesem Abend so gut wie alle. Die bisherigen Parteien, weil sie die Wahl verloren hatten. Und die neue Partei, weil sie die Wahl gewonnen hatte. Ein solches Resultat hatte es noch nie gegeben, nicht in Island, nicht sonst wo auf der Welt. Dabei war Reykjavik eigentlich eine verlässlich konservativ stimmende Stadt gewesen. Das war nun Vergangenheit. Mit 34,7 Prozent hatte die Stadt eine neue Kraft an die Macht gewählt: die Anarchosurrealisten. Deren Spitzenkandidat, Jon Gnarr, von Beruf Komiker, betrat bleich den tobenden Saal voller betrunkener Anarchisten. Er hob fast schüchtern die Faust und sagte: «Welcome to the revolution!» Und: «Hurra für alle möglichen Dinge!» Gnarr war nun Bürgermeister von Reykjavik. Nach dem Premierminister war dies das zweitwichtigste politische Amt auf der Insel: Ein Drittel aller Isländer lebt in der Hauptstadt; ein weiteres Drittel pendelt dorthin. Die Stadt ist Islands grösster Arbeitgeber, ihr Bürgermeister der Chef von 8000 Beamten. Kein Wunder, schockierte das Wahlresultat. Denn Reykjavik steckte tief in der Krise. Der Bankencrash hatte alles gleichzeitig an den Rand des Bankrotts gebracht: Staat, Stadt, Firmen und Einwohner. Und die anarchosurrealistische Partei, getauft «Die Beste Partei», bestand im Wesentlichen aus Rockstars, fast alle ehemalige Punks. Kein Einziger hatte je in einem politischen Gremium gesessen. Ihr Slogan zur Bewältigung des Crashs hiess: «Mehr Punk, weniger Hölle!» Was war in die konservativen Wähler von Reykjavik gefahren? Jedenfalls zeigten sie Mut. Sie taten am 27. Mai 2010 etwas, wovon sonst alle immer nur redeten: Sie entzogen den Politikern die Macht. Und übertrugen sie den Amateuren. Und so begann ein einzigartiges politisches Experiment: Wie würden Nicht-Politiker regieren? Wie Punks? Wie Anarchisten? Mitten in der Krise? «Es war Gruppensex» Um die Kühnheit der Wähler von Reykjavik zu würdigen, genügt es, die wichtigsten Wahlversprechen der Besten Partei nachzulesen. Sie versprach: Gratishandtücher in den Schwimmbädern. Einen Eisbären im Zoo. Den Import von Juden, «damit endlich jemand, der etwas von Wirtschaft versteht, nach Island kommt». Ein drogenfreies Parlament bis 2020. Tatenlosigkeit: «Wir haben ein Leben hart gearbeitet und wollen uns nun vier Jahre gut bezahlt erholen.» Ein Disneyland mit wöchentlichem Gratiseintritt für Arbeitslose, «wo sie sich mit Goofy fotografieren dürfen». Mehr Nähe zur Landbevölkerung: «Jeder isländische Bauer soll gratis ein Schaf ins Hotel nehmen dürfen.» Gratis-Bustickets. (Mit dem Zusatz: «Wir können mehr versprechen als alle anderen Parteien, weil wir jedes Wahlversprechen brechen werden.») Entstanden war die Beste Partei aus einem Konzept für eine Sketchsendung. 2008 hatte Gnarr die Figur eines schleimigen Politikers entworfen, der alles versprach. Das Konzept starb, als die Massen nach dem Bankencrash vor dem Parlament demonstrierten: Die Zeiten waren zu ernst für Scherze. Doch Gnarr mochte seine schleimige Politikerfigur. Er war zwar ein Schurke, aber er war fröhlich. So stellte er ein paar Clips auf Youtube. Die Leute klickten, und Gnarr entwarf eine Website mit der Parodie einer Partei. Er nannte sie «Die Beste Partei» und warb für sie mit dem einleuchtenden Slogan: «Warum die zweitbeste wählen, wenn Sie die beste haben können?» Wie es zur Idee kam, damit tatsächlich an den Wahlen teilzunehmen, bleibt dunkel. Gnarr selbst erklärte, nur Kinder glaubten, dass «eine Idee ja einfach so geboren» werde. «Normalerweise haben zwei andere Ideen Sex. In diesem Fall war es Gruppensex.» Die Hauptbeteiligten der Orgie waren: 1. Die Idee, dass es Spass machen würde. 2. Dass Spass das wäre, was die gebeutelten Einwohner Reykjaviks dringend bräuchten. 3. Der Gedanke: «Bis jetzt haben die Politiker ungefragt in unser Leben hineingefunkt. Warum sollten wir nicht das Umgekehrte tun?» 4. Der Ehrgeiz, ein perfektes Kunstwerk hinzulegen. Gnarr überzeugte seine Kollegen, sich auf die Wahlliste schreiben zu lassen: zum Beispiel Einar Örn, den ersten Bühnenpartner von Björk, der noch unberechenbarer als sie war. Dann Ottarr Proppe, einen riesigen, belesenen Punk, den Sänger bei der finsteren Heavy-Metal-Band Ham. Und den Bassisten der Band, Björn Blöndal. Frauen waren schwerer zu überreden. Gnarr fand als Wahlkampfmanagerin eine Politologin, die gerade ihr Studium abgeschlossen hatte, Heida Helgadottir. Und zu seinem Stolz Elsa Yeoman, eine Jüdin mit rauem Humor, wodurch die Beste Partei die einzige war, die «einen ausländisch klingenden Namen» oben auf der Liste hatte. In den ersten Umfragen erreichte die Beste Partei 0,7 Prozent. Gnarr feierte das im Fernsehen als «Erdrutschsieg». Und tatsächlich war es der Anfang davon. Der Kandidat Nichts hatte in Gnarrs Jugend auf Glück oder Erfolg hingedeutet. Er war das späte Kind eines bitteren Paars. Sein Vater war Polizist und Stalinist: Im Briefkasten lag die «Prawda», an der Wand hing das Foto des aktuellen Staats- und Parteichefs der Sowjetunion, wenn auch nur an der Wand des Besenschranks: Gnarrs Mutter war Konservative. Der Vater wurde als Kommunist nie befördert. Seine endlosen Monologe bei Tisch weckten in dem Sohn tiefe Abneigung gegen Politik. Ausserdem hatte er andere Probleme: In der Schule fiel Gnarr von Anfang an durch. Die Ärzte deklarierten ihn als zurückgeblieben: Er war klein, schmal, hatte ADHS und Migräneanfälle. Schreiben lernte er erst mit 14. Und bis er die Monate fehlerfrei aufsagen konnte, war er 16. In dem Alter hatte er bereits zwei Selbstmordversuche und eine Laufbahn durch mehrere Schwererziehbarenheime hinter sich. Alle, er selbst inbegriffen, hielten ihn für dumm. So traf er mit 13 drei Entscheidungen: Er wurde Punk. Er wurde Klassenclown. («Lieber der Clown als nur dumm.») Und er stellte das offizielle Lernen in der Schule ein. Er las nur noch privat. Dafür Tonnen von Büchern: zu Anarchismus, Bruce Lee, Tao te King, Monty Python und Surrealismus. Gnarr wurde Psychiatriepfleger, Taxifahrer, Bassist bei der Punkband Die tropfenden Nasen, mit 20 Vater, und irgendwann entdeckte er, dass er Musik hasste, aber die Zwischenansagen mochte. Sie wurden länger und länger. Schliesslich wurden die Nebenbemerkungen sein Hauptberuf. Gnarr machte Karriere als Komiker: Telefonscherze am Radio, Stand-up, Kolumnen, Sketche, Fernsehserien. Komiker war kein auf Island üblicher Beruf. Anfangs wurden seine Söhne in der Schule gefragt, ob ihr Vater geistesgestört sei. Als man sich daran gewöhnt hatte, wurde er berühmt. («Wobei berühmt werden in Island mit 300 000 Einwohnern sehr wenig heisst», wie er sagte. «Du kaufst eine Flasche Milch, und schon bist du berühmt.») Später, im Wahlkampf, verwiesen seine Gegner auf seine Scherze: etwa Gnarrs Parodie, in der er als Hitler die Romantik-CD «No Regrets» vorstellt. Oder seinen Erfolg als glatzköpfiger, egoistischer, aber rührend ungeschickter Stalinist in einer TV-Serie. Wie die Figuren, so der Mann. Tatsächlich schillerte Gnarr. Beruflich zeigte er eine Vorliebe für mutige Frisuren und alberne Verkleidungen, etwa einen Einteilerbadeanzug. Im Gedächtnis war auch noch seine Konversion zum Katholizismus: Über Monate hatte er ganz Reykjavik mit enthusiastischen Kolumnen auf den Papst und die Kirchenhierarchie genervt, nur um am Ende doch Agnostiker zu bleiben. Anderseits war er Vater von fünf Kindern; er war Buchautor, Komiker und eine feste Grösse am Fernsehen; ein ruhiger Mann mit einem wilden Lachen, immer noch ein Chaot, aber mit einer klugen Frau. Er hatte einen langen Weg hinter sich. Im Wahlkampf «Unsere Strategie für den Wahlkampf war, eine komplette Gegenwelt zu entwerfen», erklärte Wahlkampfmanagerin Heida Helgadottir später. «Politik ist von alten Männern dominiert, die rituell Giftpralinen austauschen. Wir dagegen setzten auf Lebenserfahrung, Aufrichtigkeit, Humor. Und wir hatten den perfekten Kandidaten. Jon ist Stand-up-Comedian: gut im Timing und gut im Lesen des Raums. Er beherrschte, worum es bei guter Politik geht: die Wahrnehmung der Umgebung.» Tatsächlich machte die Beste Partei im Wahlkampf alles anders als andere Parteien: keine Spenden, kein Geld, keine Plakate. Auf den Podien erzählte Gnarr Anekdoten, statt sich mit den anderen Politikern zu streiten. Die Profipolitiker lächelten. Sie hörten damit auf, als die Beste Partei in den Umfragen auf 10 Prozent stieg. Der Ton schlug um. Man warf Gnarr vor, Lage und Bevölkerung nicht ernst zu nehmen. Auch die Presse hörte auf, die Sache lustig zu finden. In einem TV-Interview wurde Gnarr auseinandergenommen. Nach seinem Standpunkt zum Flughafen gefragt, sagte er: «Ich habe keine Ahnung.» Er verliess das Studio, gedemütigt, mit dem Gefühl, ein Idiot zu sein. Zu seiner Verblüffung gratulierten ihm die Leute: «Endlich einer, der es zugibt!» Bei der nächsten Umfrage erzielte die Beste Partei 20 Prozent. Und dann folgte das Video, vielleicht das fröhlichste der Politikgeschichte. Es war eine umgetextete und von den Kandidaten gesungene Version von Tina Turners «Simply the Best» mit einer kurzen, mitreissenden Rede von Gnarr, die mit dem Satz begann: «Mitbürger, es wird Zeit, dass ihr in eure Herzen seht und abwägt: Wollt ihr eine leuchtende Zukunft mit der Besten Partei? Oder wollt ihr Reykjavik in Trümmern?» Das Video war, wie Ottarr Proppe später sagte, «keine aufwendige Sache. Bei Musikvideos waren wir ja Profis.» Und trotzdem ist es das schönste politische Video, das je gedreht wurde: Wer es sieht, ist danach zwei Stunden guter Laune. Es riss die Leute hin. Es überzeugte sie. Zwei Wochen vor der Wahl stand die Beste Partei bei 38 Prozent. Das war der Moment, als Gnarr ans Aufgeben dachte. Er fühlte sich müde und fremd. Die Politiker irritierten ihn: Sie machten vor und nach der Debatte Small Talk, dazwischen beschimpften sie ihn. Er merkte, dass er von den Dossiers keine Ahnung hatte, aber anfing, so zu tun. Er bekam Angst. Nach Tagen der Depression verkroch er sich in der Badewanne. Dort kamen ihm zwei Gedanken. Der erste: «Die Beste Partei war eine Idee. Sie war gewachsen, also musste ich ihr folgen. Selbst gegen meine Interessen. Sie war grösser als ich. Ich wurde zur Figur im eigenen Stück. Meine Freiheit war zwar passé. Ich war gefangen. Aber neugierig.» Der zweite Gedanke, der ihn überzeugte, war ein Scherz. Am Tag darauf stieg die Schlussdebatte. Gnarr ging ans Rednerpult und sagte: «Wir von der Besten Partei haben immer gesagt, wir machen es so lange, wie wir Spass haben. Inzwischen ist alles sehr ernst geworden. Hiermit ziehe ich meine Kandidatur als Bürgermeister und die Beste Partei von den Wahlen zurück.» Eine lange Stille folgte. Das Publikum schwieg, die anderen Politiker sahen sich an. Und Gnarr sagte: «Jooooooke!» Die Zeitungen kommentierten, dass das der letzte Scherz von Jon Gnarr gewesen sei. Die Beste Partei habe alle Glaubwürdigkeit verspielt. Zwei Wochen später gewann sie die Wahl. Später sagte Gnarr: «Es war ein Wahlkampf, ganz wie der Satz von Mahatma Ghandi: Erst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich, und dann gewinnst du.» Moderne Wikinger Klar, der Sieg wäre nicht möglich gewesen ohne den kompletten Zusammenbruch vorher: Am 24. September 2008 ging in New York die Lehman-Bank pleite und eine Woche später Island. Kein anderes Land wurde so schnell, so wuchtig, so hart getroffen. Die drei grössten Banken brachen über Nacht zusammen sie hinterliessen Schulden, die das Zehnfache des Bruttosozialprodukts betrugen. Die Börse brach um 90 Prozent ein. Der damalige Ministerpräsident Geir Haarde sagte im Fernsehen: «Gott schütze Island!» Mit den Banken versanken die Leute. Erstens, weil die Banken systematisch Kredite gestreut hatten so gut wie alle in Fremdwährungen, etwa in Schweizer Franken. Der Zins war so massiv günstiger als bei Krediten in isländischer Krone. Doch nach dem Crash sackte die Krone ins Bodenlose. Die Schulden schnellten dadurch in die Höhe. Wer einen Kredit für ein Auto aufgenommen hatte, zahlte nun ein Haus ab. Zudem wurde publik, dass die Banker sich kurz vor dem Crash riesige zinslose Darlehen gegeben hatten. Island, das weder Kriege noch Bürgerkriege noch Revolten kannte (alle Blutrunst steckt in den Sagas), erlebte Massendemonstrationen, Steine, Feuer, Tränengas. Die Regierung trat zurück. Und mit ihr eine ganze Kultur: In den Jahren zuvor hatten die konservativen Parteien alle Regulierungen abgeschafft. Island wuchs innert weniger Jahre zum Bankenriesen: ein viel gelobtes Land von Wirtschaftsprofessoren, OECD, dem Staatspräsidenten Grimsson, der im Jahr zuvor den Erfolg so erklärt hatte: «Wir sind Wikinger!» Das raue isländische Klima habe den Killerinstinkt der Vorfahren konserviert. Nun verschwanden Anzüge, Range Rovers, Nobelboutiquen, aber auch Jobs und Altersguthaben aus Reykjavik. Die Stadt In normalen Zeiten wäre es ein Vergnügen, Reykjavik zu regieren. Die Hauptstadt Islands wirkt locker wie eine Fronststadt im wilden Westen. Die Häuser sind hastig zwischen breiten Ausfallstrassen gebaut. Und da Baumaterial importiert, also teuer ist, bestehen sie aus einer abenteuerlichen Mischung aus Holz, Beton, Marmor und Wellblech. Keine zwei Häuser haben denselben Stil; keines hat Stil. Es ist eine junge Stadt. Die Bevölkerung ist deutlich jünger als der Schnitt in Europa. Viele Bars, viel Musik, im Winter endlose Nächte, zusammengefasst: viel Kinder. Da Kinderarbeit bis vor kurzem üblich war, haben die meisten Isländer viele Jobs gehabt: Fischfabrik, Häuser bauen, Journalismus (jeder 7. Isländer schreibt, wie es heisst, ein Buch), Bankchef. Es ist nicht unüblich, wenn man als Direktor gefeuert wurde, wieder Fischer zu werden. «Wir haben viele Hüte auf, das müssen wir: Wir sind so wenige», sagte eine Frau in der Bar: «Isländer sind entspannt, faul, können viel und sind überall Dilettanten. Wir sind Überlebende» In der Geschäftswelt herrscht das Gesetz der meisten Inseln. Alle kopieren alle. In den 90er Jahren gab es alle paar Meter Videotheken, ab 2000 eine Flut von Edelboutiken, heute Outdoorkleidung. Plus Design. Wer etwas anderes will, muss lang suchen. Kurz: Reykjavik ist eine Stadt, die Fehler ignoriert. Der Todesstern Die Beste Partei hatte im Wahlkampf versprochen, im Amt ein erholsames Leben zu führen. Daraus wurde nichts. In der Krise waren die Steuern um 20 Prozent eingebrochen. Die Ausgaben dagegen waren wie in jeder Stadt vertraglich gebunden fast 95 Prozent des Budgets waren für die Politik kaum veränderbar. Und die Ausgaben stiegen nun rasant: für Sozialhilfe und Arbeitslosengeld. Dazu entdeckte man, dass die Vorgänger eine Bombe hinterlassen hatten, welche die Stadtfinanzen in die Luft zu sprengen drohte: den städtischen Energiekonzern RE, Reykjavik Energy. Dieser lieferte Strom und Wasser. Das hielt man eigentlich für ein sicheres Geschäft: Nirgendwo ist Energie so billig wie auf Island, dem Land der Vulkane. Hier muss Wasser für das Duschen mitunter heruntergekühlt werden. Tatsächlich hatte RE Ende der 90er-Jahre ein Problem: Es machte zu viel Profit. Die Stadt setzte zur Lösung ein Management mit Leistungsboni ein. Es leistete ganze Arbeit: Ein Jahrzehnt später hatte der Konzern 2 Milliarden Dollar Schulden. Im Prinzip hatten sich die Stadtwerke in eine Investmentbank verwandelt: Sie investierten immer grössere Fremdwährungskredite in andere Energiekonzerne, in die Zucht von Riesencrevetten oder in Riesenturbinen für ein Aluminiumwerk, das nie jemand baute. Wie zum Teufel saniert man so einen Konzern? «Das ist nur ein neuer Job», sagte der Ex-Band-Partner von Björk, Einar Örn. «Wir kamen ja nicht nackt in dieses Amt. Wir hatten Erfahrungen. Ich war Barkeeper. Da musst du nach der Party die Aschenbecher leeren. Ich weiss, wie Dreck aussieht. Es ging einfach darum, das Beste zu tun. Egal, ob politisch rechts oder links.» Gnarr sagte: «Es gab Sitzungen, Sitzungen, Sitzungen. Aber im Prinzip war die Sache einfach. Der Konzern machte, was er nicht sollte. Sein Zweck war, Strom und Wasser zu liefern. Also mussten wir alles andere loswerden.» Als erste Partei verzichtete die Beste Partei auf die Sitze im Verwaltungsrat. Und holte stattdessen Experten. Sie feuerte den CEO, dann 200 Leute, schmiss den Konzern aus dem riesigen, finsteren, superteuren Verwaltungsgebäude (es sah aus wie der Todesstern) und erhöhte die Energiepreise. «Das Problem ist, dass vor allem die wohlhabende Elite wählt», sagte Gnarr. «Deshalb wird die Politik auch für sie gemacht. Money talks, bullshit walks. Als wir den Konzern verkleinerten und die Preise erhöhten, gab es ziemlich viel Druck. Man sagte uns, dass wir bei der nächsten Wahl Ärger bekämen. Da hatten wir als Leute, die gar nicht im Amt sein wollten, einen Vorteil. Ich konnte zurückfragen: Welche Wahl?» Das scheussliche erste Jahr «Ein Jahr», sagte die rechte Hand von Gnarr, Björn Blöndal, ein Mann mit dem Outfit eines Wildwestbankers (Stiefel, Schurrbart, Anzug), der für die schlechten Botschaften zuständig war und deshalb auch «Prinz der Finsternis» genannt wurde. «Ein Jahr brauchst du, bis du Politik begriffen hast. Wenn du dein erstes Budget gemacht hast, dann hast du den Job gelernt.» Das erste Jahr war schlimm. Die Opposition schoss aus vollen Rohren, die Zusammenlegung der Kindergärten brachte endlose Proteste, die Zeitungen schossen quer und brachten etwa, als Gnarr im Urlaub war, die Schlagzeile «Bürgermeister abgetaucht» oder spotteten, als sich Gnarr zum Zeichen seines Engagements sich das Stadtwappen von Reykjavik auf den Arm tätowieren liess, das sich dann entzündete. Das Budget war eine harte Kletzelei, besonders, da Kürzungen möglichst vernünftig verteilt werden mussten. «Was mich überraschte, war, wie politische Ideologie funktioniert», erinnerte sich Gnarr. «Als wir das Budget durchrechneten, wurde klar: Ohne Steuererhöhungen geht es nicht. Dadurch wurden wir automatisch der Linken zugerechnet. Und die Rechten tobten. Dabei taten wir nur, was getan werden musste.» Wu Wei Eine typische Auseinandersetzung im Parlament lief so: Der konservative Abgeordnete X: «Wir wollen einen Bürgermeister, der die Fakten kennt! Der keine Anekdoten erzählt! Der uns klare Antworten auf klare Fragen gibt! Der kein Idiot ist!» Bürgermeister Gnarr: «Es tut mir leid, dass du mit meinen Antworten nicht zufrieden bist. Deine Einschätzung trifft mich sehr. Umso mehr, weil sie nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Wir halten nämlich dich, X, für einen klugen, aufrechten, kompetenten Menschen.» Eines der Projekte der Besten Partei war, die politische Kultur zu verändern. Was sie vermissten, war Aufrichtigkeit. Gnarr sagte: «Am Anfang dachte ich, die Leute, die mich im Parlament anschreien, sind wirklich empört. Aber das sind sie nicht. Sobald die Kamera aus ist, wollen sie mit dir Bier trinken gehen.» Ottarr Proppe: «Man hat zwei Sprachen. Eine vor, eine hinter der Kulisse. Das kann man sich an keinem anderen Arbeitsplatz leisten. Eine Band etwa würde so keine vier Wochen überleben: Der Punkrocker ist ehrlich. Der Politiker nicht.» Und Einar Örn: «Sagen wir es so. Ich habe unter Politikern keine Freunde gefunden. Denn mit Freunden rede ich über Hobbys. Und das Hobby der Politiker ist die Politik.» «Ein wenig inkonsequent ist das schon», kommentierte der Journalist Karl Blöndal, Vizechef des konservativen «Mogunbladid»: «Sie sehen die Politik als Theater. Aber sind schockiert vom Theater in der Politik.» Im politischen Nahkampf benutzte die Beste Partei ein Konzept aus dem Tao Te King, das «Wu Wei»: Nie zurückschlagen, sondern die Attacke ins Leere laufen lassen. Aber die Wertschätzung für den Gegner ausdrücken. «Erinnert das nicht an die Urchristen im alten Rom?», sagte ich zu Björn Blöndal. «Eigentlich lasst ihr eurem Gegenüber nur zwei Wege offen: Entweder man bekehrt sich zur Sanftheit. Oder man hat den starken Wunsch, euch in die Arena zu den Löwen zu stecken.» Blöndal lachte: «Ich glaube, sie würden liebend gern die Löwen schicken.» Die gute Grossmutter Die Stadtkasse war leer. Also setzte der Bürgermeister auf symbolische Aktionen. Etwa das tätowierte Stadtwappen. Die Forderung an die chinesische Handelsdelegation, Dissidenten freizusetzen. (Sie reiste empört ab.) Den Auftritt in Frauenkleidern der Gay Parade. Den Wettbewerb um die fetteste Katze Reykjaviks als offizielle Weihnachtskatze. Der Gang an die Wahlurne als Jedi-Ritter. Den Guten-Tag-Tag, angekündigt in einem haarsträubend schleimigen Video, mit der Aufforderung, dass sich die Bürger an diesem Tag höflich grüssen sollten. (Es funktionierte.) Und nach dem Tod seiner Mutter erschien Gnarr, wie er schrieb, zum Zeichen der Trauer in ihren Kleidern im Amt ... «Stopp! Nicht alles, was Jon schreibt, entspricht exakt der Wirklichkeit», sagte der Presseverantwortliche Reykjaviks, Bjarni Brynjolfsson: «Manchmal irritiert er die Leute auch gern. Jedenfalls hat er das Problem, dass ein Politiker ohne Geld den Leuten nichts bieten kann, elegant gelöst. Keine seiner Aktionen kostete etwas.» Und Ottar Proppe sagte: «Jon ist wie eine gute Grossmutter: Er macht sehr viel aus sehr wenig. Wir zeigten, dass man viel Spass haben kann, auch ohne Geld. Das gilt auch für die Revolution: Jon und wir redeten grundsätzlich mit allen. Man kann auch das Klassensystem einreissen ohne Geld.» Der Partner Am Wahlabend formulierte die Beste Partei die Bedingung für den Koalitionspartner: Sie sollten alle fünf Staffeln von «The Wire» gesehen haben. Die Sozialdemokraten akzeptierten. In der Presse hiess es, sie riskierten damit politischen Selbstmord. Aber in Wahrheit war es die Wahl zwischen Risiko und Tod: Der Chef der Sozialdemokraten, Dagur Eggertson, von Freund und Feind beschrieben als «jemand, der brillant redet, aber etwas weniger brillant zuhört», hatte die zweite Wahl in Folge verloren. Er brauchte die Macht. Und lieh sich die ersten drei Staffeln «The Wire» aus. Die Zusammenarbeit schilderte sein Parteikollege Hjalmar Sveinsson wie folgt: «Anfangs dachten wir, das hält höchstens ein Jahr. Aber alles lief erstaunlich reibungslos. Sie hatten schöne Ideen: Menschenrechte, Politik als Kunstwerk und so weiter. Aber man muss sich im politischen Handwerk auskennen: Wo sind die Schwachstellen, welche Wege gibt es, welche Probleme? Reykjavik ist etwa eine extrem zerstreute Stadt. Sehr unideal für Busverkehr. Also braucht man einen Zonenplan, der neue Quartiere verhindert. Die Strategie kam von Dagur. Wie fast immer. Im Grunde fällten wir alle wichtigen Entscheidungen. Sie waren ein schwacher Partner: Die Anarchisten waren sehr schnell sehr brav. Sie kämpften nicht! Jedes Mal mussten wir die Opposition kontern. Ich stehe für das und das das macht einen guten Politiker doch aus ... Ich glaube, sie hatten nur drei Interessen: 1. Das hier zu überleben. 2. Die Verantwortung zu übernehmen. 3. Lustigkeit. Es war wirklich eine fröhliche Zeit.» Die Bilanz Die Bilanz von vier Jahren Anarchisten an der Macht ist ziemlich unerwartet: Die Punks haben die Finanzen saniert. Dazu kommen einige sehr gelungene Reden, ein paar Dutzend Kilometer Veloweg, ein Zonenplan, eine neue Schulorganisation (über die sich heute niemand mehr beklagt), die Förderung von kleiner Kunst und eine entspannte, boomende Stadt: Der Tourismus wächst jährlich um 20 Prozent. (Und manche sagen, das ist die neue Blase.) Staatpräsident Grimsson lobt nun in Reden nicht mehr den angeborenen Killerinstinkt der Wikinger, sondern die angeborene Kreativität des Isländischen Volks, das seit Jahrhunderten auf einer kahlen Vulkaninsel überlebt. Die Immobilienpreise steigen wieder, überall werden Hotels hochgezogen, Anzüge sind weiterhin out, aber man sieht weit mehr Range Rovers auf den Strassen. Der Wahnsinn beginnt wieder. «Das Radikalste, was wir taten, war an die Macht zu kommen», sagte Björn Blöndal, der Prinz der Finsternis: «Sonst haben wir vor allem gearbeitet. Obwohl: Das Radikalste, was wir tun konnten, war eben saubere Arbeit. Wir machten Reformen, alle ohne Geld. Als Künstler waren wir gewöhnt, mit kleinem Budget zu arbeiten, das half. Wir wollten nicht das System in die Luft jagen. Wir wollten etwas bauen: etwas Schönes, etwas Unterhaltendes, etwas Cooles.» Offensichtlich machte die Beste Partei ihren Job. In den Umfragen letzten Oktober erreichte sie ihr Rekordhoch von 38 Prozent. Kurz darauf kündigte Jon Gnarr an, aufzuhören. Und die Beste Partei aufzulösen. Er begründete das mit: «Ich bin Komiker, nicht Politiker.» Und: «Ich war vier Jahre Taxifahrer, ein wirklich guter Taxifahrer sogar, aber ich habe auch damit aufgehört.» «Meine Frage war immer: Wie ficken wir das System?», kommentierte Einar Örn. «Und die Antwort war: Wir zeigen, dass Nicht-Politiker den Job auch machen können. Aber aufzuhören, mit dem sicheren Wahlsieg vor Augen: Das ist wirklich das System gefickt!» Andere machten weiter. Sie gründeten die Nachfolgepartei «Leuchtende Zukunft». Ottar Proppe ist inzwischen Abgeordneter im Nationalen Parlament, Björn Blöndal, der Prinz der Finsternis, bewegt sich mittlerweile in der Politik wie ein Fischer am Wasser: «Es macht Spass, wenn du gelernt hast, wie man etwas verändern kann. Und langsam gut darin wirst. Politik ist ein Handwerk» Blöndal ist Spitzenkandidat der «Leuchtende Zukunft» bei den Wahlen in Reykjavik dieses Wochenende. Er und Dagur Eggertson liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen um Gnarrs Nachfolge. Die konservative Partei, die Jahrzehnte die Stadt regierte, ist chancenlos. |
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