HOME     INHALT     INFO     LINKS     ARCHIV     KONTAKT
 
     
     
  Seelenmord

Robert C. Koehler

 

Alle Menschen sind gleich geschaffen. Alle Sachen sind versichert.

Neulich sah ich den Film Belle, und ein Teil davon lässt mich nicht in Ruhe. Das Kostümdrama, das im England der 1780er spielt, dreht sich um eine wahre historische Begebenheit: die ungeheuerliche Fahrt des Sklavenschiffs Zong im Jahr 1781 von Westafrika in die Karibik. Seine Ladung bestand aus 470 dicht gepackten menschlichen Wesen, als es zur Überquerung des Atlantik in See stach – zu dicht gepackt, wie sich herausstellt. Eine Seuche erfasste die Ladung. Sklaven und Matrosen begannen zu sterben. Das Schiff ging dem Untergang entgegen. Das Wasser wurde knapp. Letztendlich warf die überlebende Besatzung die Ladung über Bord ... 132 lebende Menschen, noch immer in Ketten. Das war völlig normal.

Marcus Rediker, Autor von The Slave Ship; A Human History (Das Sklavenschiff: eine menschliche Geschichte) schrieb 2008 in der Los Angeles Times, indem er des offiziellen Endes des Sklavenhandels im britischen Weltreich vor 200 Jahren gedachte: „Über nahezu vier Jahrhunderte, von etwa 1500 bis 1870, wurden 12 bis 13 Millionen Afrikaner auf Sklavenschiffe gezwungen und in die Plantagen der Neuen Welt gebracht ... Wir wissen, dass während der Überfahrt um die 1,8 Millionen dieser versklavten Männer, Frauen und Kinder zu Tode kamen und ihre Leichen über Bord geworfen wurden zu den Haien, die üblicherweise den Schiffen folgten.“

Uh, darüber reden wir nicht viel, nicht wahr? Der fragliche Zeitraum ist das glorreiche Zeitalter der Entdeckungen, als Europa auszog und den Rest der Welt entdeckte. In den Klassenzimmern meiner Kindheit lehrten sie uns über den Seidenhandel und das hehre Streben nach neuen Seerouten und derlei Dinge. Auf, Zivilisation! Ich kann mich an keine unerfreulichen Enthüllungen über die Vergewaltigung Afrikas oder den Profit erinnern, den Europas Oberschicht mit Menschenhandel machte.

Die Handlung des Films Belle, obwohl sie fiktive Charaktere miteinbezieht, dreht sich um das reale Gerichtsverfahren, das der Ankunft der Zong in Jamaica folgte. Bei diesem Verfahren ging es nicht um den Mord an 132 Menschen, sondern darum, ob die Schiffseigentümer die Versicherungsumme für den Verlust von 132 Sklaven kassieren konnten.

Schlussendlich kam der Fall vor den Obersten Gerichtshof in Großbritannien. In einer historisch bedeutsamen Entscheidung urteilte Lord Chief Justice of the King´s Bench William Murray zugunsten der Versicherungsgesellschaft: Nein, die Versicherer waren nicht verpflichtet, für absichtlich weggeworfene Sklaven Geld zu bezahlen. Die britische Abolitionsbewegung wurde durch dieses Verfahren angefeuert und die Abolitionisten betrachteten das Urteil als einen großen Sieg.

Und so finden wir das alles in der Geschichte. Aber der Film, der die historischen Details in zeitgenössische Kostüme und eine fiktive Liebesgeschichte verpackt, schaffte es meiner bescheidenen Meinung nach, eine bemerkenswerte Leistung zu vollbringen. Er brachte die Zong und alle ihre Verwicklungen mitten in das 21. Jahrhundert, nicht abstrakt, wie die Geschichte, sondern mit einer rohen und erschreckenden zeitgenössischen Bedeutung. Wir sind mit unserer Vergangenheit nicht fertig.

Rediker schrieb in seiner Abhandlung: „… wenn europäische, afrikanische und amerikanische Gesellschaften von den Altlasten von Rasse, Klasse und Skilaverei heimgesucht werden, ist das Sklavenschiff das Geisterschiff unseres modernen Gewissens.“

Die weggeworfene Ladung unserer Vergangenheit steckt noch immer in uns, egal wie sehr wir uns bemühen, sie zu ignorieren. Die Sklaverei, aus der wir Zivilisation errichtet haben – die grausame Gewissheit unseres moralischen Relativismus, der enorme Profit, die begrabenen psycho-spirituellen Konsequenzen – warten, warten, warten ... auf unsere kollektive Trauer und Sühne.

Sie hatten einfache Namen, wie unsere Haustiere: Jim und Jack, Winney und Zach, Congo und Chloe. Sie waren dafür bestimmt, zu Tode gearbeitet und vergessen zu werden. Aber sie bleiben bei uns, tief eingebettet in das kollektive Gewissen unserer globalen Kultur, und starren auf deren Seele.

Zu seiner Weigerung, ein Strafverfahren gegen den Kapitän und die Mannschaft der Zong einzuleiten, sagte der britische Kronanwalt Justice John Lee angeblich: „Was soll die Behauptung, dass menschliche Leute über Bord geworfen worden sind? Das ist ein Fall von Sachen oder Gütern. Schwarze sind Güter und Eigentum, es ist Wahnsinn, diese pflichtbewussten ehrbaren Männer des Mordes zu bezichtigen. ... Dieser Fall ist derselbe, als wäre Holz über Bord geworfen worden.“ 

Das ist unser Erbe, so sehr es uns und vielleicht mehr als alles andere geformt hat. Die Historikerin Nell Painter hat den Begriff „Seelenmord“ gebraucht, um die Auswirkungen der Sklaverei zu beschreiben. In der Tat ist sie die Verfasserin des Buches Soul Murder and Slavery (Seelenmord und Sklaverei). In einem Interview vor einigen Jahren mit PBS sprach sie über die schrecklichen psychologischen Trümmer auf allen Seiten des Lebens der Sklaven. 

Über die Kinder der Plantagenbesitzer sprechend, die ab einem bestimmten Alter gezwungen wurden zuzusehen, wenn Sklaven geschlagen wurden, bemerkte sie, dass die Mädchen als weibliche Menschen zumindest eine teilweise Identifizierung mit dem Opfer beibehalten konnten. „Aber der Junge muss lernen, sich mit dem Schlagenden zu identifizieren,“ sagte sie. „Wenn er das nicht tut, dann ist er kein richtiger Mann. Das macht also die Fähigkeit, Gewalt zuzufügen, zu einem integralen Teil der Männlichkeit.“

Ernten wir nicht noch immer die Konsequenzen? Diese Woche, in einer High School in Troutdale, Oregon, eröffnete ein 15 Jahre alter Junge „das Feuer mit einem Gewehr und trug auch eine halbautomatische Pistole bei sich, die er nicht benutzte, wie auch ein Messer und neun volle Munitionsmagazine mit einige hundert Schuss,“ laut Reuters.

So so. Dieser Wahnsinn nimmt zu, wie jeder weiß. Es ist eine Nachahmung des Militarismus, aber da liegt noch mehr darin. Wir haben noch kaum begonnen, die abgrundtiefe Gebrochenheit der menschlichen Kultur zur Kenntnis zu nehmen, von Heilung gar nicht zu reden. Wir sind noch immer verloren im Zeitalter der Entdeckungen.

 
     
  Archiv > Artikel von Robert C. Koehler auf antikrieg.com  
  Robert Koehlers Artikel erscheinen auf seiner Website COMMONWONDERS.COM, in HUFFINGTON POST, Chicago Tribune und vielen weiteren Websites und Zeitungen  
 
Sehen Sie dazu im Archiv:
  John Horgan - Warum Töten Soldaten Spaß macht 
  Debbie Harbeson - Einige tiefer gehende Gedanken zum Krieg
  Tim Kelly - Folter und Rechtsstaat
  Mark Danner - US-Folter: Stimmen von dunklen Orten
  Matthew Harwood - ‚Sie sahen alle gleich aus’
  Oded Na'aman - Die Kontrollstelle
 
  Im ARCHIV finden Sie immer interessante Artikel!  
  Die Weiterverbreitung der Texte auf dieser Website ist durchaus erwünscht. In diesem Fall bitte die Angabe der Webadresse www.antikrieg.com nicht zu vergessen!  
  <<< Inhalt