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Gideon Levys "Die Zeit der Gerechten" (es ging um den gerade "aktuellen" Terrorangriff Israels gegen Gaza) bildete Anlass und Auftakt zu antikrieg.com im Januar 2009. Wenige Tage später konnte ich Verbindung mit Professor Avi Shlaim aufnehmen, der den folgenden Text zur Verfügung stellte: | ||||||||||||||
Israels
Krieg gegen Hamas Gerede und Wirklichkeit Avi Shlaim
Israels Krieg gegen Gaza dauerte 22 Tage und kostete über 1.200 Palästinenser und 13 Israelis das Leben. Der Sinn dieses sinnlosen Krieges ergibt sich nur aus dem historischen Zusammenhang. Der Staat Israel wurde 1948 auf der Grundlage einer UNO-Resolution gegründet. Von Anfang an wurde den Palästinensern gewaltiges Unrecht zugefügt. Britische Vertreter nahmen die einseitige amerikanische Unterstützung für den neuen Staat sehr übel. Am 2.Juni 1948 schrieb Sir John Troutback an den Außenminister Ernest Bevin, die Amerikaner trügen die Verantwortung für die Einrichtung eines Gangsterstaates, der von einer äußerst skrupellosen Bande von Führern angeführt werde. Mir schien diese Beurteilung zu scharf zu sein, aber der bösartige Überfall Israels auf die Menschen in Gaza und die Komplizenschaft der Bush-Regierung bei diesem Angriff lassen diese Frage wieder aktuell werden. Ich schreibe das als einer, der treu in der israelischen Armee Mitte der 60er Jahre gedient und nie die Legitimität des Staates Israel in seinen Grenzen vor 1967 in Frage gestellt hat. Das zionistische Kolonisierungsprojekt jenseits der Grünen Linie lehne ich entschieden ab. Die israelische Besetzung von Westbank und Gazastreifen nach dem Juni 1967 haben sehr wenig mit Sicherheit, aber sehr viel mit territorialem Expansionismus zu tun. Das Ziel war die Schaffung eines Großisraels durch ständige politische, wirtschaftliche und militärische Kontrolle über die palästinensischen Gebiete. Das Ergebnis ist eine der am längsten anhaltenden und brutalsten militärischen Okkupationen in jüngerer Zeit. Vier Jahrzehnte Kontrolle durch Israel fügten der Wirtschaft des Gazastreifens unabsehbaren Schaden zu. Mit seiner großen Zahl von Flüchtlingen aus dem Jahr 1948, die in einen kleinen Landstreifen gepfercht waren, hatte Gaza von vorne herein keine besondere Zukunft. Gaza ist allerdings nicht einfach ein Fall von ökonomischer Unterentwicklung, sondern ein einzigartig gemeiner Fall von Ent-Entwicklung. Um das Bibelwort zu benutzen Israel machte die Menschen in Gaza zu Holzhackern und Wasserträgern, zu einer Quelle billiger Arbeitskräfte und einem unverlierbaren Markt für israelische Waren. Die Entwicklung einer lokalen Industrie wurde aktiv behindert, um es den Palästinensern unmöglich zu machen, ihre Unterordnung unter Israel zu beenden und die wirtschaftlichen Grundlagen für eine reale politische Unabhängigkeit zu schaffen. Gaza ist ein klassischer Fall von kolonialer Ausbeutung in der nachkolonialistischen Ära. Der Aufbau ziviler jüdischer Siedlungen auf besetztem arabischen Land begann unmittelbar nach dem Sechs-Tages-Krieg. Diese Siedlungen sind sowohl illegal als auch ein unüberwindbares Hindernis auf dem Weg zu einem Frieden. Sie sind einerseits ein Instrument der Ausbeutung und andererseits das Symbol für die verhasste Okkupation. Im Jahr 2005 betrug die Zahl der jüdischen Siedler in Gaza nur 8.000 im Vergleich zu der von 1,4 Millionen ortsansässiger Bewohner. Dessen ungeachtet kontrollierten die Siedler 25% der Landfläche, 40% des landwirtschaftlich nutzbaren Grundes und einen großen Anteil der ohnehin äußerst knappen Wasserreserven. In Tuchfühlung mit diesen fremden Eindringlingen lebte der Großteil der lokalen Bevölkerung in äußerster Armut und unvorstellbarem Elend. 80% der Menschen haben weniger als US$ 2 pro Tag zum Leben und sind auf Lebensmittelrationen der UNRWA - der UNO-Hilfsorganisation angewiesen. Die Lebensbedingungen im Gazastreifen sind ein Affront gegen die Werte der Zivilisation, eine mächtige Triebkraft für den Widerstand und ein fruchtbarer Boden für politischen Extremismus. Im August 2005 veranstaltete die Likud-Regierung unter Ariel Sharon einen einseitigen Rückzug Israels aus Gaza, zog alle 8.000 Siedler zurück und zerstörte deren Häuser und was sie sonst noch zurückgelassen hatten. Hamas, die islamische Widerstandsbewegung, hatte eine wirkungsvolle Kampagne durchgeführt, um die Israelis aus Gaza zu vertreiben. Der Rückzug war ein Sieg für Hamas und eine Demütigung für die israelische Armee. Sharon präsentierte der Welt diesen Schachzug als Beitrag zum Frieden auf der Basis einer Zwei-Staaten-Lösung. Aber schon im Jahr nach dem Rückzug siedelten 12.000 Israelis in der Westbank, wodurch die Aussicht auf einen unabhängigen und territorial zusammenhängenden palästinensischen Staat weiter reduziert wurde. Diebstahl von Land und Frieden schließen sind einfach unvereinbar. Israel hatte die Wahl und hat sich für Land statt für Frieden entschieden. Die wirkliche Absicht hinter dieser Vorgangsweise war die neue einseitige Ziehung der Grenzen eines Großisrael durch die Vereinnahmung der wichtigsten Siedlungsgebiete auf der Westbank durch den Staat Israel. Der Rückzug aus Gaza war somit nicht das Vorspiel zu einem Friedensschluss mit den Palästinensern, sondern das Vorspiel für die weitere zionistische Expansion auf der Westbank. Es war eine einseitige Aktion Israels im meiner Meinung nach falsch eingeschätzten nationalen Interesse Israels. Eingebettet in die grundsätzliche Ablehnung der palästinensischen nationalen Identität bildete der Rückzug aus Gaza einen Teil der langfristigen Bemühungen, den Menschen Palästinas jegliche unabhängige politische Existenz in ihrem Land zu verwehren. Die israelischen Siedler waren zurückgezogen worden, aber israelische Soldaten kontrollierten weiterhin jeden Zugang zum Gazastreifen, sei es zu Land, Wasser oder in der Luft. Über Nacht war Gaza in ein Freiluft-Gefängnis umgewandelt worden. Von da an konnte die israelische Luftwaffe nach Belieben Bomben abwerfen, im Tiefflug die Schallmauer durchbrechen und die Bewohner dieses Gefängnisses terrorisieren. Israel stellt sich gerne hin als Insel der Demokratie in einem Meer von autoritär geführten Staaten. In seiner ganzen Geschichte hat Israel allerdings nicht das leiseste unternommen, um die Demokratie auf der arabischen Seite zu fördern, sondern hat im Gegenteil alles mögliche getan, um diese zu untergraben. Israel hat eine lange Geschichte der geheimen Zusammenarbeit mit reaktionären arabischen Regierungen, um den palästinensischen Nationalismus zu unterdrücken. Ungeachtet aller Einschränkungen konnten die Palästinenser die einzige wirkliche Demokratie in der arabischen Welt errichten, ausgenommen vielleicht Libanon und Marokko. Im Januar 2006 führten freie und faire Wahlen zur gesetzgebenden Versammlung Palästinas zu einer Regierung unter Führung der Hamas. Israel weigerte sich, die demokratisch gewählte Regierung anzuerkennen und behauptete, Hamas sei schlicht und einfach eine terroristische Organisation. Die Vereinigten Staaten von Amerika und die Europäische Union verbündeten sich in schamloser Weise mit Israel bei der Ächtung und Dämonisierung der Hamas-Regierung und beim Versuch, diese durch das Zurückhalten von Steuergeldern und Hilfe aus dem Ausland zu Fall zu bringen. Eine surreale Situation entwickelte sich ein wesentlicher Teil der internationalen Gemeinschaft verhängte wirtschaftliche Sanktionen nicht gegen die Besatzungsmacht, sondern gegen die Besetzten, nicht gegen den Unterdrücker, sondern gegen die Unterdrückten. Wie schon so oft in der tragischen Geschichte Palästinas wurde den Opfern die Schuld an ihrem eigenen Schicksal zugeschoben. Israels Propagandamaschine lieferte ununterbrochen die Vorstellung, die Palästinenser seien Terroristen, sie lehnten eine Koexistenz mit dem jüdischen Staat ab, ihr Nationalismus sei wenig mehr als Antisemitismus, Hamas sei nur ein Haufen religiöser Fanatiker und der Islam sei unvereinbar mit Demokratie. Die einfache Wahrheit ist natürlich, dass die palästinensischen Menschen ganz normale Menschen mit normalen Sehnsüchten sind. Was sie ganz besonders anstreben ist ein Land, das sie ihr eigenes nennen können, um dort in Freiheit und Würde zu leben. Wie andere radikale Bewegungen begann auch die Hamas ihre politischen Programme zu ändern, nachdem sie an die Macht gekommen war. Sie blieb weiterhin bei der Weigerung, den jüdischen Staat anzuerkennen. Sie fing aber langsam damit an, sich von der sturen ideologischen Ablehnung und der Forderung eines islamischen Staates im gesamten Palästinensergebiet in Richtung einer pragmatischen Einigung über eine Zwei-Staaten-Lösung zu bewegen. Ihre Sprecher betonten wiederholt, sie würden einen Palästinenserstaat in den Grenzen von 1967 akzeptieren und boten einen langfristige Waffenstillstand auf dieser Grundlage an. Im März 2007 bildeten Hamas und Fatah eine Regierung der nationalen Einheit, die bereit war, einen langfristigen Waffenstillstand mit Israel zu verhandeln. Israel weigerte sich aber, mit einer Regierung zu verhandeln, in der Hamas vertreten war. Es lehnte alle Verhandlungen mit der politischen Führung der Hamas ab und zog es vor, statt dessen deren militärischen Flügel zu zerschlagen. Gleichzeitig fuhr Israel fort, das alte Spiel Teile und herrsche zwischen den rivalisierenden palästinensischen Fraktionen zu spielen. Gegen Ende der 80er Jahre hatte es die im Entstehen begriffene Hamas unterstützt, um die Fatah zu schwächen, die sekuläre nationale Bewegung unter der Führung von Yasser Arafat. Jetzt begann es, die korrupten und unterwürfigen Führer der Fatah zu ermutigen, ihre religiös-politischen Rivalen zu stürzen und die Macht wieder an sich zu reißen. Aggressive amerikanische Neokonservative beteiligten sich an dem hinterhältigen Komplott, einen Bürgerkrieg unter den Palästinensern anzuzetteln. Ihre Einmischung spielte eine größere Rolle beim Zusammenbruch der Regierung der nationalen Einheit und trieb Hamas dazu, im Juni 2007 die Macht in Gaza zu übernehmen, um einem Staatsstreich der Fatah zuvorzukommen. Der Krieg, den Israel am 27. Dezember 2008 gegen Gaza entfesselte, bildete den Höhepunkt einer Serie von Konflikten und Zusammenstößen mit der Hamas-Regierung. Im großen und ganzen ist es aber ein Krieg zwischen Israel und dem palästinensischen Volk, das diese Partei mehrheitlich gewählt hatte. Das deklarierte Ziel dieses Krieges war es, Hamas zu schwächen und den Druck zu verstärken, bis ihre Führer einem neuen Waffenstillstandsabkommen zu den Bedingungen Israels zustimmten. Die nicht deklarierten Ziele waren, Hamas aus der Macht zu vertreiben und sicher zu stellen, dass die Situation der Palästinenser in Gaza von der Welt einfach als humanitäres Problem betrachtet wird, um so ihren Kampf für Unabhängigkeit und einen eigenen Staat ins Leere laufen zu lassen. Der zeitliche Ablauf des Krieges war durch politische Kalkulation bestimmt. Am 10. Februar finden in Israel Wahlen statt, wobei alle wichtigen Bewerber im Wahlkampf auf der Suche nach Situationen sind, in denen sie ihre Härte unter Beweis stellen können. Die militärische Führung wollte ihren Beitrag zur Zerschmetterung von Hamas leisten, um den Makel loszuwerden, den ihr das Versagen im Krieg im Juli 2006 gegen die Hezbollah in Libanon eingetragen hatte. Israels zynische Führer konnten auch mit der Apathie und Unfähigkeit der prowestlichen arabischen Regierungen rechnen sowie auf blinde Unterstützung durch Präsident Bush in seinen letzten Tagen im Weißen Haus. Bereitwillig tat ihnen Bush den Gefallen, gab Hamas die alleinige Schuld an der Krise, legte im UN-Sicherheitsrat sein Veto gegen Vorschläge für einen sofortigen Waffenstillstand ein und gab somit Israel grünes Licht für die Bodeninvasion in Gaza. Wie immer behauptet das mächtige Israel, Opfer der palästinensischen Aggression zu sein, aber der reine Vergleich zwischen den beiden Seiten lässt wenig Raum für Zweifel, wer das wirkliche Opfer ist. Es handelt sich in der Tat um einen Konflikt zwischen David und Goliath, allerdings unter verkehrten Vorzeichen ein kleiner wehrloser palästinensischer David steht einem schwer bewaffneten, erbarmungslosen und überwältigenden israelischen Goliath gegenüber. Der Einsatz brutaler militärischer Gewalt wird wie immer begleitet vom schrillen Jammergeschrei über die Opferrolle und einem Mischmasch von Selbstmitleid und Selbstgerechtigkeit. Im Hebräischen kennt man das als das Syndrom ve-bokhim schießen und weinen. Es ist klar, dass Hamas in diesem Konflikt nicht die völlig unschuldige Seite ist. Nachdem ihr die Früchte des Wahlsiegs verwehrt worden und sie mit einem skrupellosen Gegner konfrontiert war, griff sie zur Waffe der Schwachen Terror. Militante Kämpfer von Hamas und Islamic Jihad beschossen israelische Siedlungen nahe der Grenze zu Gaza mit Quassam-Raketen, bis Ägypten im vergangenen Juni einen sechsmonatigen Waffenstillstand vermittelte. Der Schaden, den diese primitiven Raketen anrichteten, ist minimal, aber die psychologischen Auswirkungen sind immens, indem sie die Öffentlichkeit dazu bringen, von ihrer Regierung Schutz zu fordern. Unter diesen Umständen hatte Israel das Recht, in Selbstverteidigung zu handeln, aber seine Reaktion auf die Nadelstiche der Attacken mit primitiven Raketen war außerhalb jeder Verhältnismäßigkeit. Die Zahlen sprechen für sich. In den drei Jahren nach dem Rückzug aus Gaza wurden elf Israelis durch Raketen getötet. Auf der anderen Seite tötete die israelische Armee in Gaza 1.290 Palästinenser, darunter 222 Kinder. Die israelische Armee entwickelte eine Kultur der Straflosigkeit, die auch die Tötung internationaler Freiwilliger wie Rachel Corrie und Tom Hurndall umfasste. Töten von Zivilisten ist ein schwerer Verstoss gegen das internationale Recht. Das gilt für Israel genauso wie für Hamas, aber Israels Strafregister besteht aus ungezügelter und unablässiger brutaler Gewalt gegen die Bewohner von Gaza. Nach dem Wahlsieg der Hamas verhängte Israel eine wirtschaftliche Blockade gegen Gaza und die Westbank, indem es alle Grenzübergänge schloss und keinerlei Verkehr zwischen Gaza und der Westbank zuließ. Auch nach dem von Ägypten vermittelten Waffenstillstand im Juni 2008 weigerte sich Israel, die Blockade zu öffnen. In eindeutiger Verletzung eines Abkommens aus dem Jahr 2005 verhinderte Israel jeglichen Export von Waren aus dem Gebiet, was einen dramatischen Rückgang bei den Beschäftigungsmöglichkeiten zur Folge hatte. Nach offiziellen Angaben sind 49,1% der Einwohner arbeitslos. Gleichzeitig beschränkte Israel drastisch die Anzahl der Lastkraftwagen, die Nahrung, Treibstoff, Gaskartuschen, Ersatzteile für Wasser- und Klärwerke sowie Medikamente nach Gaza transportieren durften. Es ist schwer zu erkennen, welcher Schutz für die Menschen auf der israelischen Seite der Grenze durch Aushungern und Ausfrieren der Zivilbevölkerung von Gaza erreicht werden kann. Sogar wenn das der Fall wäre, wäre es dennoch unmoralisch, eine Form kollektiver Bestrafung, die ausdrücklich durch internationales Recht verboten ist. Der Zweck dieser Blockade war es, die Position der Hamas zu unterminieren und die der verrufenen Fatah-Führer in der Westbank zu stärken. Der Brutalität der israelischen Soldaten und der Unmenschlichkeit der israelischen Politiker konnte die Verlogenheit ihrer Sprecher durchaus das Wasser reichen. Acht Monate vor der Entfesselung der so genannten Operation Cast Lead (Vergossenes Blei) hatte die israelische Regierung eine nationale Informationsabteilung eingerichtet. Die zentralen Botschaften dieser Abteilung waren, dass Hamas die Waffenstillstandsabkommen gebrochen habe, dass es Israel um die Verteidigung seiner Bevölkerung gehe und dass das israelische Militär angewiesen sei, größte Sorgfalt walten zu lassen, um keine unschuldigen Zivilisten zu treffen. Israels Spindoktoren waren erstaunlich erfolgreich bei der Verbreitung dieser Botschaft. Aber im Wesentlichen war ihre Propaganda ein Haufen Lügen. Eine breite Kluft lag zwischen den Taten Israels und der Rhetorik seiner Sprecher. Zu allererst war es nicht Hamas, sondern die israelische Armee, die den Waffenstillstand gebrochen hat, und zwar am 4. November durch einen Überfall auf das Gebiet von Gaza, bei dem sie sechs Hamas-Kämpfer tötete unter dem fadenscheinigen Vorwand, sie hätten einen Tunnel gegraben. Es ist kaum bekannt, dass die Hamas strikt die Einhaltung des Waffenstillstands auf ihrer Seite betrieb, bis Israel diesen sabotierte. Eine Grafik auf der Website des israelischen Außenministeriums bewies das jenseits jedes Zweifels. Diese Grafik zeigte, dass die durchschnittliche Zahl von Raketen im Monat im davor liegenden Zeitraum im Jahr 2008 179 betrug und von Juli bis Oktober dramatisch auf durchschnittlich drei im Monat abfiel. Nach Beginn des Krieges wurde diese Grafik von der Website entfernt, um die Erinnerung an den Waffenstillstand zu löschen, der so wirkungsvoll die Raketenangriffe auf israelische Bürger hintangehalten hat. Die Lehre aus diesen Zahlen ist ganz einfach: wenn Israel Ruhe an seiner Grenze im Süden haben will, führt der Weg dorthin über indirekte Gespräche mit den Führern der Hamas und nicht über die militärische Konfrontation. Diese Zahlen belegen auch, dass auf die Führer der Hamas Verlass bei der Einhaltung von Abkommen ist, was von den Führern Israels nicht gesagt werden kann. Zum Zweiten war das Ziel Israels nicht so sehr der Schutz seiner Bevölkerung vor Attacken mit Quassam-Raketen, als viel mehr der letztendliche Sturz der Hamas-Regierung in Gaza, indem es die Bevölkerung gegen diese aufbrachte. Zum dritten hat sich Israel weit jenseits aller Bestrebungen seine Bürger zu schützen schuldig gemacht, ein rücksichtsloses Bombardement aus der Luft sowie eine 18 Monate dauernde Blockade durchgeführt zu haben, die die 1.5 Millionen Einwohner von Gaza an den Rand einer humanitären Katastrophe gebracht haben. Die biblische Vorschrift Auge um Auge ist primitiv genug. Israels wahnsinniger Offensive gegen Gaza liegt offenbar die Logik Auge um Augenwimper zugrunde. Nach acht Tage währendem Bombardement mit über 400 toten Palästinensern und vier toten Israelis befahl das übereifrige Kabinett die Landinvasion von Gaza. Das war die Phase II der Operation Cast Lead. Kolonnen israelischer Panzer und Bodentruppen überschritten die Grenze in den Norden Gazas. Sie hatten den Auftrag, die Raketenabschussanlagen zu zerstören, Büros, Befehls- und Kontrollzentren der Hamas zu treffen und führende Persönlichkeiten des politischen und militärischen Flügels der Bewegung zu töten. Ziel war die Enthauptung der Organisation, ohne in eine länger anhaltende Okkupation verwickelt zu werden. Die Vertreter Israels gaben nur sehr ungern zu, dass der Angriff zum Sturz der Hamas führen sollte, da sie befürchteten, dass das die internationale Unterstützung untergraben würde, die sie gewonnen hatten, indem sie ihre Vorgangsweise als rein defensive Maßnahme zum Schutz vor Hamas-Raketen hingestellt hatten. Jedenfalls stieg die Zuversicht in den höheren Rängen der Kriegsführung, dass der Angriff Hamas empfindlich treffen und sie möglicherweise sogar entmachten werde. Geheimdienstchefs berichteten der Regierung, Hamas sei schwerwiegend geschwächt durch die Zerstörung eines großen Teils der physischen Verwaltungsstruktur einschließlich des Parlamentsgebäudes und vieler Regierungsbüros. Die Befehle der Regierung an die Armee waren allerdings zurückhaltend bezüglich des Sturzes der Hamas-Regierung. Regierungswechsel ist nicht unser Geschäft, bemerkte ein Regierungsvertreter. Die Geheimdienste berichteten der Regierung auch, dass das israelische Bombardement dazu führe, dass sich die öffentliche Meinung gegen die Hamas richte. Diese Einschätzung war allerdings wahrscheinlich durch eine große Portion Wunschdenken gefärbt. Zumindest kurzfristig stellten sich die eingeschlossenen, erschreckten und terrorisierten Menschen hinter ihre wehrhafte Regierung. Die Menschen waren schockiert durch Ausmaß, Wildheit und rücksichtslose Natur des israelischen Angriffs. Israelische Sprecher verkündeten immer wieder ihr Anliegen, unschuldige Zivilisten zu schonen. Ministerpräsident Ehud Olmert erklärte von Anfang an, dass Israel gegen Hamas die eiserne Faust einsetzen, die zivile Bevölkerung aber mit Samthandschuhen behandeln werde. Angesichts von Tod und Zerstörung, die die israelische Armee auf Gaza herunter hageln ließ, klangen seine Worte eher hohl. Den ganzen Krieg hindurch stieg die Zahl der zivilen Opfer immer höher. Das war kein Zufall. Das war das direkte Ergebnis der neuen Richtlinie der israelischen Armee, Verluste unter den eigenen Soldaten dadurch zu vermeiden, dass alles rücksichtslos zerstört wird, was sich diesen in den Weg stellt. Das palästinensische statistische Amt schätzte nach den ersten beiden Kriegswochen, dass von den 143.437 Gebäuden in Gaza 4.000 völlig und 16.000 teilweise zerstört waren, darunter 13 Moscheen, 18 Schulen und Universitäten und 30 der Sicherheit dienende Gebäude. John Ging, der Leiter der UN-Hilfsorganisation in Gaza beschuldigte Israel der Zerstörung öffentlicher Gebäude, die wichtig für die Verwaltung und die Durchführung von Regierungsaufgaben in Gaza sind. Die gesamte Infrastruktur der zukünftigen Staates Palästina wird zerstört, sagte er. Das Parlamentsgebäude in die Luft gejagt. Das ist das Parlament von Palästina. Das ist kein Hamas-Gebäude. Einer der betrüblichsten Aspekte dieses dermaßen unverhältnismäßigen Konflikts betrifft die von der israelischen Armee begangenen Kriegsverbrechen. Diejenigen, die Soldaten zu intensiven Kampfhandlungen in das am dichtesten besiedelte Gebiet der Erde geschickt haben mussten wissen, dass das in einem Blutbad enden musste,dem Töten und Verstümmeln unschuldiger Zivilisten, die dem Feuer nicht entkommen konnten. Im Lauf dieses grausamen Krieges begingen die israelischen Soldaten nicht ein oder zwei, sondern eine große Anzahl von Kriegsverbrechen. Die Liste beinhaltet die Bombardierung der UNO-Schule im Flüchtlingslager Jabaliya und das Massaker an 44 dort untergebrachten Menschen; das Zusammentreiben von hundert Zivilisten in ein Haus im Dorf Zeitun und dessen anschließende Bombardierung, bei der ein Drittel von diesen getötet wurde; die Verwendung von Bomben und Granaten mit weißem Phosphor; die Verwendung von Zivilisten als menschliche Schutzschilde und der Beschuss von ambulanten Kliniken, Rettungswagen und medizinischem Personal. Die UNO-Hochkommissarin für die Menschenrechte Navi Pillay sagte der BBC, der Zwischenfall in Zeitun scheine in jeder Beziehung ein Kriegsverbrechen zu sein und forderte eine unabhängige und transparente Untersuchung. Allein diese Kriegsverbrechen wischen jegliche moralische oder rechtliche Rechtfertigung dieses Krieges zur Seite. In diesem Krieg verfolgte Israel eine gewalttätige Taktik, aber keine schlüssige Strategie. Seine strategischen Ansprüche waren sowohl völlig inakzeptabel als auch selbstzerstörerisch. Der strategische Ansatz, eine militärische Lösung für in erster Linie politische Probleme zu suchen, war in Libanon versucht worden und hatte versagt und musste auch in Gaza scheitern. Noch so viel militärische Gewalt kann den Kampfgeist der Hamas nicht brechen. Ungeachtet von Tod und Zerstörung, die Israel über sie gebracht hatte, hielten die Kämpfer der Hamas ihren Widerstandskampf aufrecht und feuerten weiterhin ihre Raketen ab. In dieser Bewegung spielen Opferrolle und Martyrium eine große Rolle. Zwischen den beiden Gesellschaften gibt es ganz einfach keine militärische Lösung. Das Problem des israelischen Sicherheitskonzepts besteht darin, dass es der anderen Seite die grundlegendsten Ansprüche an Sicherheit vorenthält. Die einzige Möglichkeit, Sicherheit zu erreichen liegt für Israel nicht im Schießen, sondern in Verhandlungen mit der Hamas, die wiederholt ihre Bereitschaft bekundet hat, mit dem jüdischen Staat in den Grenzen vor 1967 einen langfristigen Waffenstillstand für 20, 30 oder sogar 50 Jahre zu verhandeln. Israel hat dieses Angebot aus dem gleichen Grund zurückgewiesen wie 2002 den Friedensplan der Arabischen Liga, der nach wie vor auf dem Tisch liegt: es sind damit Zugeständnisse und Kompromisse verbunden. Israels Krieg gegen Gaza endete mit einem einseitig ausgerufenen Waffenstillstand und einer Siegeserklärung. Aber ungeachtet militärischer Erfolge brachte dieser Krieg eine ungeheure moralische Niederlage für die Israelis. Die Hamas, die den Krieg zerschrammt und arg mitgenommen überstanden hat, befindet sich noch immer an der Macht, ist weiterhin kampfbereit und moralisch eindeutig der Sieger. Durch den Krieg wurde unbeabsichtigt die Position der Fatah geschwächt, während Hamas als führende Kraft des Widerstandes gegen die israelische Aggression eindeutig an Glaubwürdigkeit gewinnen konnte. Durch den zügellosen Einsatz von Gewalt hat Israel nicht nur seine eigenen, sondern genauso auch die Interessen des Westens geschädigt. Die Erregung derart großen Zorns in den arabischen und muslimischen Regionen lag weder in seinem eigenen noch im Interesse seiner Verbündeten. Fawas Gerges führt in seinem Artikel Hamas Rising (Hamas im Vormarsch) in The Nation vom 17. Januar 2009 aus, dass der Angriff auf Gaza zu einer Radikalisierung der allgemeinen Einstellung der Moslems führt. Die von arabischen und muslimischen Fernsehstationen gezeigten Bilder von toten Kindern und verzweifelten Eltern ließen den Zorn auf Israel und seine Schutz-Supermacht wachsen. Die Unmenschlichkeit Israels brachte Kritiker der Hamas erfolgreich zum Schweigen und verlieh der radikalen Widerstandsbewegung Berechtigung in den Augen vieler bis dahin eher skeptischer Palästinenser und Moslems. Tiefer als jeder früher geführte arabisch-israelische unterminierte dieser Krieg den Status der pro-westlichen Regierungen in Ägypten, Jordanien und Saudiarabien in den Augen von vielen ihrer Bürger. Hauptnutznießer sind Iran, Syrien und die Befürworter des Jihads gegen den jüdischen Staat wie z.B. al-Quaeda Chef Osama Bin Laden. Dieser kurze Überblick über Israels Bilanz der letzten vier Jahrzehnte und besonders der letzten drei Wochen macht es schwer, nicht zur Schlussfolgerung zu kommen, dass dieses Land zu einem Schurkenstaat verkommen ist mit einer äußerst skrupellosen Bande von Führern. Ein Schurkenstaat verletzt gewohnheitsmäßig internationales Recht, besitzt Massenvernichtungswaffen und praktiziert Terrorismus den Einsatz von Gewalt gegen Zivilisten für politische Zwecke. Israel erfüllt alle drei Kriterien der Hut passt und es muss ihn tragen. Israels wirkliches Ziel ist nicht ein friedliches Zusammenleben mit seinen palästinensischen Nachbarn, sondern deren militärische Beherrschung. Israel bleibt dabei, die Fehler der Vergangenheit mit neuen, noch verheerenderen zu verschlimmern. In Gaza ist es zu weit gegangen: es hat Wind gesät und wird dafür sicher den Sturm ernten.
antikrieg.com, 25. Januar 2009 Ungekürzte von Avi Shlaim zur Verfügung gestellte Version. Auszüge sind erschienen in The American Conservative und The Guardian. |
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Avi Shlaim ist Professor für internationale Beziehungen an der Universität Oxford. Er hat die Bücher "The Iron Wall: Israel and the Arab World" und "Lion of Jordan: King Hussein's Life in War and Peace" verfasst. | ||||||||||||||
Zufällig habe ich gerade dieses Interview mit Avi Shlaim entdeckt > The forgotten history of Arab Jews (03.08.2023). Falls Sie Englisch verstehen, kann ich Ihnen dieses Gespräch nur wärmstens ans Herz legen! | ||||||||||||||
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In
den Sudelmedien wird so gut wie täglich über das
allerwerteste Befinden des britischen Königshauses und
dessen Verwandtschaft berichtet. Wer mit wem, wer gegen
wen usw. sind die Fragen, die uns um die Ohren geschlagen
werden. Dass es sich hier um die höchste Instanz des Landes handelt, das fernab von rechtsstaatlichen Verhältnissen für Julian Assange - übrigens ein "Untertan" aus der ehemaligen Kolonie Australien - vor den Augen der ganzen Welt die Neuauflage des mittelalterlichen Hungerturms inszeniert, bleibt unerwähnt. Dieser ungeheuerliche Bruch mit der zeitgemäßen Zivilisation beweist eindeutig, dass die sogenannte westliche "Kultur" mitsamt ihren "Werten" ("Menschenrechte", "Rechtsstaat" usw.) keinen Pfifferling wert ist, zumal deren "Hüter" zu diesen skandalösen Vorgängen schweigen. Was der neue König dazu sagt? Ob er die Absicht hat, zum Auftakt seiner Regentschaft nicht Gnade vor Recht, sondern Recht vor Unrecht ergehen zu lassen? Klaus Madersbacher, antikrieg.com |
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