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  Die Türkei wird getrieben von Überheblichkeit

Conn Hallinan

 

Vor zwei Jahren war die Türkei auf ihrem Weg zu einer Rolle als Akteur in Zentralasien, als bedeutender Vermittler im Mittleren Osten und als treibende Kraft in der internationalen Politik. Sie hatte mit ihren regionalen Rivalen Frieden gemacht, sich mit Brasilien zusammengetan, um einen ernsthaften Versuch einer friedlichen Lösung der nuklearen Krise des Iran zu unternehmen, und war dazwischengetreten, um eine größere Eskalation im Krieg 2008 zwischen Georgien und Russland abzuwenden, indem sie Schiffe der Vereinigten Staaten von Amerika nicht in das Schwarze Meer einfahren ließ.

Heute liefert sie sich Artilleriegefechte mit Syrien. Ihre Beziehungen mit dem Irak haben sich so sehr verschlechtert, dass Bagdad Ankara zu einem „feindlichen Staat“ erklärt hat. Sie fing einen Streit mit Russland an, indem sie ein syrisches Passagierflugzeug zur Landung zwang und Moskau beschuldigte, Waffen an die Regierung von Bashar al-Assad zu liefern. Sie verärgerte den Iran, indem sie zustimmte, ein Raketenabwehrsystem der Vereinigten Staaten von Amerika zu stationieren (womit sie sich auch keine Freunde in Moskau machte). Ihr Krieg gegen ihre kurdische Minderheit ist scharf eskaliert.

Was ist geschehen? Der Lohn religiöser Solidarität? Ein ottomanisches Deja Vu? 

Es steckt ein bisschen Wahrheit in jeder dieser Vermutungen, aber die gewaltige diplomatische Kursänderung der Türkei hat weniger zu tun mit dem Koran und Erinnerungen an das alte Reich als mit Illusionen und Überheblichkeit. Es ist eine Kombination, die im Mittleren Osten nicht selten zu finden ist, und eine, die jetzt verspricht, Jahre der umsichtigen Diplomatie auf den Kopf zu stellen, die Unruhe in der Region zu beschleunigen, und die Türkei in ein Bündnis mit Ländern zu treiben, deren interne Zerbrechlichkeit die Türken nachdenklich stimmen sollte.  

Ottomanische Gespenster

Wenn in all dem ein Geist aus der Vergangenheit steckt, dann in der wachsenden Allianz zwischen der Türkei und Ägypten.

Die beiden Länder sind unter den bevölkerungreichsten in der Region, und beide besitzen industrielle Grundlagen in einem Bereich der Welt, in dem die Industrie aktiv unterbunden worden war durch ein Jahrhundert der kolonialen Beherrschung (darunter auch die Türken). Ankara offerierte vor kurzem den knapp bei Kasse befindlichen Ägyptern $2 Milliarden Hilfsgelder, und beide Länder haben moderate islamistische Regierungen. Kairo und Ankara haben auch den Sturz des Assad-Regimes unterstützt.

„Anscheinend ist jetzt Ägypten der engste Partner der Türkei im Mittleren Osten,“ sagte Gamel Soltan von der Amerikanischen Universität in Kairo zur New York Times. Aber obwohl Ägypten einst unter den reichsten Provinzen der Ottomanen war, gibt es 2012 keine Welt der Sultane und Paschas – und im gegebenen Fall könnten alte Erinnerungen leicht eine Falle sein. 

Ägypten ist tief verstrickt in Armut und Ungleichheit. Tatsächlich war es genauso die wirtschaftliche Krise, die die Region ergriffen hatte, wie die Hoffnungen auf Demokratie und Freiheit, die den Tahrir-Platz füllten. Kairo steckt in einer ernsthaften Schuldenkrise und bereitet gerade eine Reihe von Sparmaßnahmen vor, die die Ungleichheit verschärfen werden. Die Regierung von Präsident Mohamed Morsi hat angekündigt, dass sie die Subventionen für Benzin abbauen werde – ein Einschnitt, der besonders hart die Armen treffen wird, besonders angesichts einer Arbeitslosenrate von über 12% und einer doppelt so hohen Jugendarbeitslosigkeit. 

Auf den ersten Blick haben beide Regierungen viel gemeinsam, besonders weil die türkische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und Ägyptens Moslembruderschaft als „gemäßigte“ Islamisten betrachtet werden. Aber viele in der Bruderschaft betrachten die AKP und den türkischen Premierminister Recep Tayyip Erdogan als viel zu „gemäßigt“ – in der Türkei ist es noch immer verboten, ein Kopftuch zu tragen, wenn man sich für ein öffentliches Amt bewirbt oder im öfffentlichen Dienst arbeitet. 

Wetten gegen die Sponsoren

Während der Westen Morsis und Erdogans Regierungen als „islamistisch“ ansieht, betrachten einige der Jihadistengruppen, die Kairo und Ankara in Syrien unterstützen, die ägyptische und türkische Regierung als nicht viel mehr als Ungläubige oder Abtrünnige. Wie der Experte für den Mittleren Osten Robert Fisk sagt, sind die Jihadisten ein Skorpion, der sie am Ende beide stechen könnte – etwa so wie die Taliban es mit ihren pakistanischen Sponsoren gemacht haben.

Die Türkei hofft anscheinend darauf, ein Dreieck zwischen Ankara, Kairo und den reichen Erdölmonarchien des Golf Cooperation Council (GCC) – Saudiarabien, Qatar, Kuwait, Bahrain, Oman und die Vereinigten Arabischen Emirate – zu konstruieren (zwei weitere Monarchien, Jordanien und Marokko wurden ebenfalls gefragt, ob sie mitmachen). Diese Verbindung von Bevölkerung, Industrie und Reichtum, so die Vorstellung, würde bewirken, dass diese Allianz die Region beherrscht. 

Dem GCC stehen enorme Reichtümer zur Verfügung, aber wie stabil sind autokratische Monarchien in der Welle demokratischer Erwartungen, die vom arabischen Frühling geweckt worden ist? Der König von Bahrain herrscht mit Hilfe der Gewalt der saudischen Armee. Saudiarabien selbst hat Schwierigkeiten, seine wachsende Bevölkerung mit Arbeitsplätzen und Wohnungen zu versorgen, was ständig erschwert wird durch Ungleichheit, hohe Arbeitslosigkeit, grassierende Korruption und eine widerspenstige schiitische Minderheit in den östlichen Provinzen. Der jordanische Monarch kämpft mit einer wirtschaftlichen Krise und einer politischen Opposition, die König Abdullah II zur Einführung einer konstitutionellen Monarchie drängt.

Wie sich diese neue Allianz auf die Palästinenser auswirkt, ist nicht klar. Die Türkei hatte 2009 eine Auseinandersetzung mit Israel, und Ägypten und Qatar kritisierten scharf die Behandlung der Palästinenser durch Tel Aviv. Jedenfalls sieht es so aus, dass die islamische Gruppierung Hamas in Gaza mehr gewinnen wird als die säkulare Palästinenserbehörde in der West Bank. 

Mit der Ausnahme von Bahrain haben alle beteiligten Länder große sunnitische Mehrheiten, die sie auf den ersten Blick hin religiös betrachtet auf die gleiche Seite stellen würden. Die meisten Golfmonarchien liegen jedoch auf der Linie von radikalen islamistischen Gruppen, von denen einige sich in al-Qaeda ähnliche Organisationen umgewandelt haben, welche Länder von Pakistan bis Irak destabilisiert haben. Gelegentlich sind diese Gruppen gegen ihre Sponsoren vorgegangen, wie etwa Osama bin Laden gegen Saudiarabien.

Derartige Islamistengruppen sind zunehmend aktiv im syrischen Bürgerkrieg, wo die Türkei sich selbst in einer Rolle findet, die jener sehr ähnlich ist, die Pakistan während des sowjetisch-afghanischen Krieges 1979-1989 gespielt hat. Einige der Gruppen, die Pakistan in diesen Jahren unterstützt hat, haben sich jetzt gegen ihre Patrone gewendet. Wird die Türkei das nächste Pakistan werden? In einem Interview mit der Financial Times sagte ein syrischer Aufständischer, dass viele der Rebellen Munitionsvorräte für „nach der Revolution“ anlegen.

Bulent Alizira vom Center for Strategic and International Studies sagte der Financial Times, dass die Türkei in Gefahr ist, „wie Pakistan zu werden, das zum Brückenkopf der afghanischen Rebellen geworden ist. Sollte das geschehen, könnte sie all den Belastungen ausgesetzt sein, denen Pakistan ausgesetzt war und von denen es sich nie erholt hat.“

Problem in der Nachbarschaft

Und warum würde die Regierung Erdogan einen Streit mit Russland anfangen? Russland ist ein bedeutender Handelspartner, und die Türkei ist daran interessiert, gute Beziehungen herzustellen mit der Shanghai Cooperation Organization (SCO), die von Russland und China 2001 gegründet worden ist. Die Organisation umfasst die meisten Länder in Zentralasien, Indien. Pakistan, Iran und Afghanistan sind durch Beobachter vertreten. Die SCO steht für 75% der Energieressourcen und der Erdbevölkerung und koordiniert alles vom Handel bis zu Erdöl- und Gaspipelines. Warum irritiert Ankara wohl einen der bedeutenden Spieler in der SCO? 

Könnte es Ärger sein gegenüber Moskau, weil es aggressivere Maßnahmen durch den UN-Sicherheitsrat blockiert hat, in den syrischen Bürgerkrieg einzugreifen? Russland hat gemeinsam mit China durchgehend eine politische Lösung der Krise in Syrien gefordert, während die Türkei eine Strategie des gewaltsamen Regimewechsels verfolgt hat. Erdogan ist bekannt für seine Arroganz und Unbeherrschtheit.

„Seine persönlichen Ambitionen und Wunschdenken beeinträchtigen vielleicht sein Urteilsvermögen,“ sagte Morton Abramowitz von der Century Foundation (Jahrhundert-Stiftung) zu UPI, „und wirken sich aus auf die türkischen Interessen.“ Abramowitz diente in den Carter- und Reagan-Administrationen und war Botschafter in der Türkei von 1989-1991. Er ist auch ein Direktor der National Endowment for Democracy (Nationale Stiftung für Demokratie).

Auch die Beziehungen zwischen der Türkei und dem Iran haben sich abgekühlt, teilweise wegen des Raketenabwehrsystems der Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch weil Ankara versucht, einen der wenigen Verbündeten des Iran in der Region zu stürzen. Sunnitische Jihadisten gegen die alawitische Regierung Assads zu unterstützen wird im schiitischen Iran schwerlich gut ankommen, und wenn wir schon dabei sind, auch nicht im schiitischen Irak.

Warum wird die Türkei wohl bedeutende Handelspartner wie den Iran und den Irak vor den Kopf stoßen? Ist es möglich, dass die reichen Monarchien der Golfregion – die gegen die Schiiten sind und den Iran als ihre größte Bedrohung betrachten – Ankara ein Angebot gemacht haben, das es nicht ausschlagen kann? Ob die Monarchien es langfristig einhalten können, steht auf einem anderen Blatt.

Mittlerweile hat der Krieg in Syrien die Furien entfesselt. Im Libanon sind wieder Autobomben aufgetaucht. Die Kurden haben der türkischen Armee blutige Kämpfe geliefert. Hunderttausende Flüchtlinge sind aus Syrien heraus geströmt, und die Kämpfe im Land eskalieren.

Luftabwehrraketen – die russischen SAM-7 oder Strela, höchstwahrscheinlich während des Libyenkriegs „befreit” – sind auch in Erscheinung getreten. Die handabgefeuerten Raketen werden in der Tat unangenehm werden für syrische Flugzeuge, aber wenn sie in die Hände der Kurden fallen, werden türkische Helikopter genauso Probleme bekommen, nicht anders als andere Luftstreitkräfte von Libanon bis Jordanien. Eine Strela wurde auf ein israelisches Flugzeug im Gazastreifen am 16. Oktober abgefeuert.

Die Rolle der Türkei im Krieg in Syrien findet bei der türkischen Bevölkerung wenig Anklang. Rund 56% lehnen diese Politik ab, und 66% sind dagegen, dass syrischen Flüchtlingen gestattet wird, in das Land zu kommen.

„Wir stehen an einem sehr kritischen Punkt,“ sagte der Journalist Melih Asik der New York Times. „Wir legen es uns nicht nur an mit Syrien, sondern mit dem Iran, Irak, Russland und China. Hinter uns haben wir nichts außer der provokanten Haltung und den leeren Versprechungen der Vereinigten Staaten von Amerika.“

Vor vier Jahren machte sich die Türkei auf, um mit anderen Ländern in der Region starke Beziehungen aufzubauen – nach dem Motto „null Probleme mit den Nachbarn“ – und ihre Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten von Amerika zu vermindern. Heute liegen diese politischen Ziele in Scherben. Aber das ist es, wohin Illusion und Überheblichkeit führen.

 
     
  erschienen am 2. November 2012 auf > www.antiwar.com > Artikel und > FOREIGN POLICY IN FOCUS  
     
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