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  Die Alchemie des Verzeihens 

Robert C. Koehler

 

„Fünfzehn Männer schlugen uns und vergewaltigten uns,“ sagte die junge Frau. „Ich war zwölf. Einen der Männer kannte ich. Meinen Onkel. Ich sehe diesen Mann immer noch hier in der Gegend – wenn ich ihn sehe, dann habe ich Angst.“

Das war während des Bürgerkriegs in Sierra Leone, elf Jahren Hölle, die 2002 zu Ende ging, aber eigentlich nicht wirklich zu Ende ging, weil die Überlebenden, deren Kultur zerschlagen und deren Gemeinsinn gebrochen worden war, in einem Zustand anscheinend unüberbrückbaren Misstrauens untereinander verblieben waren. Über 50.000 Menschen kamen in diesem Krieg um ihr Leben. Viel mehr wurden verkrüppelt und entstellt, tausende Kinder wurden entführt und unter Todesqualen zu Kindersoldaten gemacht – zu Mördern. Das war der Krieg, in dem der Begriff „Blutdiamanten“ publik wurde.  

Als der Waffenstillstand zwischen Regierung und Rebellen unterzeichnet wurde, war eine Amnestie Teil des Abkommens. Diejenigen, die bei den Gräueltaten mitgemacht hatten, gingen einfach nachhause. Das taten auch diejenigen, die in Flüchtlingslager geflohen waren. Spannungen und Misstrauen wurden einfach begraben, als Opfer und Mörder ihre Existenzen wieder nebeneinander aufbauten. Die lebendigen Gemeinschaften jedoch, die gebaut auf Teilen und Geschichtenerzählen in Sierra Leones Dörfern vor dem Krieg geblüht hatten, schienen für immer vergangen zu sein.

Westliche Justiz – ein Spezialgericht, eingerichtet, um die ärgsten Gewalttäter zu verfolgen, und sogar eine Wahrheitskommission – konnten so gut wie gar nichts ausrichten. Aber der Menschenrechtsaktivist John Caulker war überzeugt, dass in den zerbrochenen Traditionen seines Heimatlandes – der Kultur der lebendigen Verbindung, der Aussprechens der Wahrheit und der Vergebung – die Saat der Versöhnung liegt. Er wusste, dass so gut wie jeder in Sierra Leone sich nach Versöhnung sehnte. Seine Vorstellung, die Wahrheitskommission auf das Land in die Dörfer zu bringen, wurde jedoch von den UNO-Experten für derartige Angelegenheiten zurückgewiesen. Das ist noch nie so gemacht worden, sagten sie. Das wird nie funktionieren.

Caulker gründete daher eine Organisation mit dem Namen Fambul Tok, was in Krio „Familiengespräch“ bedeutet. In den ersten beiden Jahren ihres Bestehens führte sie 55 Heilungszeremonien in Dörfern in ganz Sierra Leone durch – einige davon werden gezeigt in einer aufwühlenden Dokumentation namens Fambul Tok, die heuer beim Peace on Earth Film Festival (Filmfestival Friede auf Erden) in Chicago gezeigt wurde *. Als ich diese sah, wusste ich, dass ich darüber schreiben musste – selten habe ich gesehen, dass eine derart verstörende Angelegenheit durch die Alchemie des Verzeihens umgewandelt wurde.  

Regisseurin Sara Terry sagt auf ihrer Website, dass sie, als sie begann, Caulker und den Fambul Tok-Freiwilligen auf ihren Fahrten durch das Land zu folgen, die Entscheidung traf, westliche Ungläubigkeit und Skepsis aus der Geschichte draußen zu lassen:

„Mein Standpunkt als Filmmacherin sollte es sein, ihren Standpunkt einzunehmen, ihre Worte, ihre Geschichten, ihre Leben mir und allen von uns zeigen zu lassen, warum Verzeihung für sie möglich war. Vielleicht können wir dann anfangen zu lernen, warum Verzeihung für den Rest von uns möglich ist.“

„Fünfzehn Männer schlugen uns und vergewaltigten uns ...“

Famul Tok beginn hier, an einem Lagerfeuer. Es ist Nacht. Das Feuer lodert. Dutzende oder vielleicht hunderte Dorfleute sitzen rund um das Feuer, trommeln, singen. Die Frau tritt aus der Menge heraus und erzählt ihre Geschichte.

Wie sie fertig ist, tritt ein Mann zögernd nach vorne. „Er ist der Mann,“ sagt sie.

Er schaut sie an: „Fürs erste,“ sagt er, „bitte ich um Verzeihung. Es war nicht meine Absicht, es zu tun. Sie schlugen mich und sagten, dass ich getötet würde, wenn ich nicht mitmachte. Ich bitte Esther, mit zu verzeihen. Von jetzt an will ich alles tun, was sie will. Alles, worum sie mich fragt, will ich für sie tun. Bitte verzeih mir.“ Er fällt auf seine Knie. „Ich verzeihe ihm,“ sagt sie. Jemand fragt, ob ihr damit wirklich ernst. Sie wiederholt: „Ja, ich verzeihe ihm.“

Dann tanzen sie eine Art Tanz der Vergebung – einen Tanz, der den ganzen Film hindurch wiederholt wird, wo der Kreis des Bekennens der Wahrheit und der Versöhnung von Dorf zu Dorf reist. Sie halten sich bei den Händen und bewegen sich zurück und nach vorne. Die Menge schließt sich ihnen an. Es wird gesungen und getrommelt.

Im Verlauf des Films werden die Geschichten von Gewalt und Schrecken immer schlimmer. Zwei ehemals beste Freunde sprechen. Sie waren kleine Buben, als die Rebellen in ihr Dorf kamen. Der eine Bub, unter Todesqualen, schlug den anderen, dann erstach er dessen Vater mit einem Messer, das sie ihm gaben. Bevor er das tat, war er selbst verwundet worden. Beide Jungen erzählen ihre Geschichten. Dem Mörder wird verziehen. Sie umarmen sich. Sie tanzen den Tanz der Vergebung.

Ein großer Teil des Films dreht sich um die Suche nach einem Mann namens Tamba Joe, einem Dorfbewohner, der zu den Rebellen ging und verantwortlich war für einige der grausigsten Gewalttaten, die man sich vorstellen kann. Er kam zurück in sein altes Dorf und leitete ein Massaker an ehemaligen Nachbarn und Freunden und deren Kindern. Ein Dorfbewohner berichtet, wie er beobachtete, dass Tamba Joe 17 Mitglieder seiner Familie ermordet und – o Gott – geköpft hat. Der Schrecken seiner Geschichte liegt fast jenseits des Fassbaren, aber er spricht nur mit einer sanftmütigen Traurigkeit. Er will Versöhnung. Er will, dass Tamba Joe nach Foendor zurückkehrt und sich seinen Opfern stellt; er will ihm verzeihen. 

Tamba Joe wird nie gefunden, aber seine drei Schwestern, deren Leben ebenfalls durch die Morde zerrüttet worden waren – sie stehen vor den zerbrochenen Beziehungen zu ihrer ehemaligen Heimat – nehmen teil an einem Fambul Tok-Kreis und erlangen Vergebung für ihren Bruder. Eine von ihnen nimmt später eine Videobotschaft für ihren Bruder auf: „Fürchte dich nicht,“ bittet sie. „Alles kann für uns geschehen. Und alles hat ein Ende. Ich glaube, sie haben dir verziehen.“

Bis zum Ende des Films bleibt Tamba Joe verborgen, oder vielleicht ist er gestorben, aber sein ehemaliger Rebellenkommandant, berüchtigt für seine Brutalität, bricht in Tränen aus, als er die Botschaft anhört. Der Kommandant öffnet sich gegenüber John Caulker und beginnt ehrlich zu sprechen, das erste Mal, über das, was er im Krieg getan hat. Und so setzt sich der Versöhnungsprozess fort, und Sierra Leone baut sich langsam wieder auf.

 
  * Tipp: auf YouTube sind einige Ausschnitte aus „Fambul Tok“ zu finden  
  Robert Koehlers Artikel erscheinen auf seiner Website COMMONWONDERS.COM, HUFFINGTON POST und vielen weiteren Websites und Zeitungen  
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