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  Kairos in Kairo – den Schwung der moralischen Courage erfassen

Chris Floyd

Ich war einer unter der einen Million Menschen, die am 15. Februar 2003 durch London marschierten, um gegen die unmittelbar bevorstehende Invasion des Irak zu protestieren. Ich glaube nicht, dass jemand in der Menge dachte, dass ein einzelner Marsch die angloamerikanische Koalition davon abhalten könnte, einen Aggressionskrieg zu beginnen, aber die meisten fühlten, dass es wichtig war, dass der weit verbreitete Ärger und die Bestürzung über diesen mörderischen Verlauf buchstäblich auf der Straße von einer breit gefächerten Öffentlichkeit zum Ausdruck gebracht wurden. 

Das wurde auch gemacht. Und es war nicht völlig bedeutungslos, als eine Handlung, die Zeugnis ablegte. Aber jetzt, Jahre danach, haben uns die Menschen in Ägypten – besonders die jungen Menschen – gezeigt, was für eine kleine, klägliche Angelegenheit diese Demonstration im Jahr 2003 wirklich war, und wie wir uns von diesen aggressiven Führern für dumm verkaufen ließen. Wir kamen, wir marschierten, wir taten uns zusammen – dann gingen wir ruhig nachhause, zurück in unser Leben, und ließen die brutale Kriegsmaschine weiter machen.

Was wäre geschehen, hätten wir den Mut und die Entschlossenheit gehabt, die die Ägypter heute demonstrieren? Was, wenn wir wie sie uns geweigert hätten, nachhause zu gehen und ausgeharrt hätten, zusammengedrängt im Zentrum von London, Tag für Tag, gegen ein Regime, das entschlossen war, einen Angriffskrieg zu führen: „das schwerste internationale Verbrechen, das sich von anderen Kriegsverbrechen nur dadurch unterscheidet, dass es in sich das gesamte Übel aller anderen einschließt,“ wie das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal festgestellt hat. Und weiter: „Einen Angriffskrieg zu beginnen ist ein Verbrechen, das keine politische oder wirtschaftliche Situation rechtfertigen kann.“ 

Tag für Tag widerstanden die Ägypter den Hieben eines bösartigen Polizeistaates, den wilden Attacken bezahlter Schläger, Belastung, Erschöpfung und Entbehrungen der ständigen Wachsamkeit unter der Drohung von Gefangennahme oder Tod – und noch immer stehen sie dort, und werden immer mehr, in einer außergewöhnlichen Offenbarung moralischer Courage, die zweifelsohne das verbrecherische Regime zu Fall bringen wird, ungeachtet der verzweifelten sinnlosen Verzögerungstaktik, die Hosni Mubarak am Donnerstag Abend eingeschlagen hat. 

Aber an jenem Tag vor langer Zeit in London, der jetzt hinter uns liegt hinter einem Fluss voll Blut und gefüllt mit den Leichen einer Million getöteter Unschuldiger, verschwanden wir einfach im Laufe eines Nachmittags. Ein einziger Tag, ein paar Stunden, ein paar Reden – dann nichts. Wie müssen Blair und Bush und alle die militaristischen Apparatschiks darüber gelacht haben! „Sie sollen ihren kleinen Marsch haben. Wer gibt einen Scheißdreck dafür? Geben wir ihnen die Genehmigungen, leiten wir den Verkehr für sie um, lassen wir sie ihre Tafeln schwenken. Was macht´s? Wenn es vorbei ist, werden sie einfach nachhause gehen, und wir können mit unserem Geschäft weiter machen.”

Aber was wäre gewesen, wenn wir geblieben wären? Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende? Wenn wir wie die Ägypter den Normalbetrieb unterbrochen und mehr und mehr Druck auf das System erzeugt hätten, das Thema des aggressiven Krieges in das öffentliche Gewissen gezwungen hätten, Tag für Tag, und dadurch wie in Ägypten die Vertreter des Systems gezwungen hätten, ihre Standpunkte zu erklären. Wie schwer wären Struktur und Funktionäre der Macht erschüttert worden? Wie viele der letzteren wären ermutigt worden, zumindest Fragen zu stellen und mehr Information zu fordern über den sinnlosen Drang zum Krieg? Wie viele hätten zum Ausdruck gebracht, dass sie „kein Vertrauen” haben in eine Regierung, die so tief verwickelt ist in ein Komplott absichtlicher Irreführung mit dem Ziel, einen Massenmord zu begehen?

Vielleicht hätte das den Krieg nicht aufgehalten. Das kann man jetzt nicht mehr herausfinden. Wir haben aber in Ägypten und Tunesien gesehen, wie eine Explosion von massenhafter moralischer Courage – und physischer Courage – den Zeitgeist durchbrechen und Platz für neue Wirklichkeiten schaffen kann, für Veränderungen, die nur wenige Tage davor undenkbar erschienen sind. Solche günstigen Zeitpunkte sind selten, und wenn sie nicht genutzt werden, schließt sich das Fenster. Wir waren da, eine Million Menschen im Zentrum von London, aus allen Bevölkerungsschichten, aus allen Rassen, aus allen Religionen, aus allen Berufsgruppen, vereint gegen den Krieg. Kairos - der günstige Zeitpunkt - hing schwer in der Luft, wie der unsichtbare Druck vor einem Gewitter.  

Aber wir drehten uns weg. Wir ließen die Gelegenheit fahren. Der Moment verstrich. „Und der Krieg kam.”

Das ist der Grund, warum der 15. Februar nicht mehr als eine kurze Fußnote in einer langen, noch immer andauernden Geschichte der Grausamkeit und Schlächtereien bleiben wird. Der 25. Januar hingegen, der Tag, an dem die Ägypter zum ersten Mal auf die Straße gegangen – und auf der Straße geblieben – sind, wird noch nach Generationen als Orientierungspunkt für die Befreiung der Menschheit gefeiert werden.

 
     
  erschienen am 11. Februar 2011 in > Empire Burlesque > Artikel  
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