HOME     INHALT     INFO     LINKS     ARCHIV     KONTAKT
 
     
  Eine Erhebung der Volksmacht im Mittleren Osten

M. Shahid Alam

In seiner wöchentlichen Sendung auf CNN rätselte Fareed Zakaria vor kurzem, ob George Bush die Lorbeeren für die Vorgänge beanspruchen kann, die sich in Tunesien ereigneten, ob das die späte Ernte des neokonservativen Projekts ist, die „Demokratie“ in den Mittleren Osten zu bringen.

Es ist sehr außergewöhnlich, Zakaria zu beobachten – einen Moslem, geboren und aufgewachsen in Indien, Spross einer führenden Familie der politischen Klasse – wie er mit derartiger Leichtigkeit die Sprache der herrschenden Klassen Amerikas nachahmt und kaum eine Spur von Mitgefühl für die Unterdrückten der Welt zeigt, ungeachtet seiner Nähe zu diesen aufgrund von Geschichte und Geographie. Er hat eine Vorliebe für Indien, aber auch hier zeigt er nur ein Interesse für Indiens strategische Interessen, nicht die Interessen seiner unterdrückten Klassen, Minderheiten und Volksgruppen. Soweit eine Nebenbemerkung meinerseits darüber, wie leicht es für Angehörige der oberen Klassen in Ländern wie Indien, Pakistan oder Ägypten ist, in eine amerikanische Haut zu schlüpfen, wenn mit dieser Verstellung größere persönliche Vorteile verbunden sind. 

Als Deckmantel für die Vertiefung der Kontrolle der Vereinigten Staaten von Amerika über den Mittleren Osten – hier finden wir die letzte Zivilisierungsmission – argumentierten die Neokonservativen in der Regierung Bush, dass die islamische Welt „Terroristen“ produziert, weil sie unter autoritären Systemen lebt. Um das Problem mit den „Terroristen“ zu lösen, müssten die Vereinigten Staaten von Amerika die Demokratie in den Mittleren Osten bringen. Diese Demagogie enthüllte nur den Bankrott von Amerikas politischer Klasse. Es ist eine Schande, dass der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und seine Drahtzieher mit derlei Absurditäten hausieren konnten, ohne auf dröhnendes Gelächter zu stoßen  - und niedergeschrien zu werden als scheinheilig und lächerlich.

Welches Land war denn der führende Verbündete und Sponsor nahezu aller Diktaturen im Mittleren Osten die letzten Jahrzehnte hindurch – derjenigen von königlicher Herkunft und anderer, die darauf aus waren, Könige zu werden?  

Der wirkliche Plan der Vereinigten Staaten von Amerika scheiterte jedenfalls kläglich. Er wurde vom Widerstand der Völker in Irak, Afghanistan und Pakistan über den Haufen gestoßen.

Dennoch können George Bush und seine Neokonservativen einiges von der Protestwelle, die sich über den Mittleren Osten ausbreitet – von Tunesien und Algerien bis nach Ägypten und Jemen - auf ihr Konto buchen. Die Invasionen der Vereinigten Staaten von Amerika in den Irak und Afghanistan, die Angriffe gegen Pakistan, die verschämte Unterstützung der mörderischen Kriege Israels gegen die Palästinenser und Libanesen, sowie die immer einschneidenderen Sanktionen und täglichen Drohungen gegen den Iran haben mit Sicherheit eines bewirkt: sie haben den Lauf der Geschichte in diesem Teil der Welt beschleunigt.

Die imperiale Maxime der Vereinigten Staaten von Amerika in ihrem globalen Krieg gegen „Terrorismus” – wer nicht mit uns ist, ist gegen uns – zwang nahezu alle muslimischen Potentaten, offen vor ihren Herren in die Knie zu gehen. Je weiter das Doppelspiel dieser Potentaten ging, desto weniger war es möglich, diese Schande zu verbergen. In der Tat waren sie bei einigen Gelegenheiten gezwungen, offen ihre wahre Flagge zu zeigen. Saudiarabien und Ägypten gaben offen der Hizbollah die Schuld, als Israel im Juli 2006 den Süden des Libanon bombardierte und einmarschierte; sie wiederholten diese Darbietung, als Israel im Dezember 2008 mit seinen Massakern in Gaza begann. Saudiarabien war bereit, Souveränitätsrechte über seinen Luftraum aufzugeben für den Fall, dass Israel einen Angriff gegen den Iran unternehmen wollte.Wie WikiLeaks enthüllte, verlangten die Saudis sogar von ihren Herren, sie sollten „der Schlange den Kopf abschneiden,“ sprich einen Krieg gegen den Iran beginnen. Ägypten kooperierte offen mit Israel, um die tödliche Schlinge um Gaza enger zu ziehen.  

Der unerhörteste Fall dieser Unterwerfung der Potentaten ist der, den die Palästinenserbehörde (PA – Palestinian Authority) lieferte. Der Verrat der PLO an ihrem Volk begann 1993 mit den Oslo-Verträgen. Die letzten zehn Jahre hindurch haben sie diese Unterwerfung zu ihrem logischen Schlusspunkt geführt. Die Schergen in den höchsten Rängen der PA haben sich selbst kastriert, um Israels Eunuchen zu werden, indem sie offen und geheim den totalen Krieg Israels gegen Gaza und die Strangulierung der West Bank begrüßt haben.

Sind diese Akte der Unterwerfung, des Ausverkaufs und der Demütigungen von den Völkern dieser Region, die sich von Mauretanien und Ägypten bis Pakistan und Indonesien erstreckt, nicht bemerkt worden? 

Es stimmt, dass die „arabische Straße“ – die vom Westen gewählte Bezeichnung zur Verunglimpfung der Mehrheitsmeinung im Mittleren Osten – nicht in Aktionen ausbrach, als die Amerikaner in den Irak einmarschierten, aber viele im Irak, Schiiten wie Sunniten, brachten ihre Botschaft den Amerikanern sehr kräftig bei. Wenn sich die Menschen damals nicht ausgedrückt haben, dann deshalb, weil sie brutalen Diktaturen und Despoten gegenüber standen, die ihr Leben in eisernem Griff hielten. Ja, die Völker wurden von der Brutalität dieser Regimes geknebelt, aber sie waren nicht ohne Vorsätze; sie waren entschlossen, ihre Fesseln loszuwerden. Sie warteten nur auf ihre Chance, auf einen Funken, der ihre Herzen entzünden und ihre Angst vor Gefangenschaft, Folter und Ermordung, die ihnen von ihren Peinigern beigebracht worden war, zu Asche zerfallen ließ. 

Dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen. Die Angst vor Tyrannen wurde zuerst von den Tunesiern zur Seite gefegt; innerhalb von Wochen bestieg ihr Tyrann ein Flugzeug und flüchtete über das Mittelmeer. Die Funken dieses Flächenbrandes verbreiteten sich nach Westen und Osten – nach Algerien, Ägypten und Jemen. In naher Zukunft könnten sie Sudan, Jordanien, Libyen und Marokko und wer weiß wen noch erreichen. Vielleicht werden Saudiarabien und die anderen Erdölquellen, die als Staaten und Scheichtümer aufgemacht sind, gegen diesen Flächenbrand immun bleiben, wie sie auch gegen den früheren Flächenbrand des arabischen Nationalismus immun geblieben sind. Aber auch ihre Zeit wird kommen.

Das ist keine Siegeserklärung, für diese ist die Zeit noch nicht gekommen. Die Kräfte der Tyrannei und Reaktion – die unter einer Decke stecken mit ihren Drahtziehern in den Vereinigten Staaten von Amerika, Israel, im Vereinigten Königreich und Frankreich – werden zu brutaler Gewalt greifen, um die Erhebung der Volksmacht zu unterdrücken, sie werden zu jeder List greifen, um die Menschen zu täuschen, und sie werden viele Alliierte finden in den oberen und mittleren Klassen, die zu Reichtum gekommen sind unter den terroristischen Regimes, denen sie gedient haben. Die Völker werden sich erheben gegen die brutale Gewalt, die gegen sie gerichtet sein wird. Sie werden die Täuschungen der bedrohten Regimes durchschauen, die halbherzigen Maßnahmen, die angeboten werden, um den Schwung der Volksbewegung zu brechen. Die Tunesier haben die pathetischen Machenschaften ihrer sogenannten Koalitionsregierung durchblickt und fordern den Abgang aller Mitglieder von Ben Alis Gaunerbande.  

Es ist unmöglich voraussagen, wie diese neue historische Phase, dieser Neuaufbau des Mittleren Ostens weitergehen wird. Die Medien des Westens erklären, dass die Proteste, die sich vor unseren Augen entfalten, ohne Anführer sind, aber das liegt nur daran, dass sie die Anführer nicht sehen können. Mit Sicherheit entwickeln sich auch jetzt Anführer aus den Reihen der Arbeiter, Studenten, Lehrer, Ingenieure, Anwälte und Ärzte, aus den Reihen der Arbeitslosen, aus dem Archipel der Gefängnisse, in denen diese Regimes ihre Opfer gefoltert haben. Viele der Kader von ehemaligen Anführern befinden sich noch im Gefängnis, während andere ihre Rückkehr aus dem erzwungenen Exil vorbereiten. Wenn diese älteren Anführer zögern, sich an den Protesten zu beteiligen, werden sie ersetzt werden durch neue Kader einer jüngeren, unverdorbenen und energischeren Führung.   

Ja, die Neokonservativen können sich wohl einige Verdienste für diese (für sie) verhängnisvolle Wende der Ereignisse zuschreiben. Dadurch, dass sie so gewaltig übers Ziel hinaus geschossen hat, hat diese Verschwörerbande ihrem Land großen Schaden zugefügt. In der Folge der Kriege, die sie entfesselt und dadurch die Vereinigten Staaten von Amerika gezwungen hat, Billionen für das Militär auszugeben, haben ihre Konkurrenten die Partie übernommen und sie in einem Bereich nach dem anderen hinter sich gelassen. Jetzt ist das auch entsprechend von Präsident Obama in seiner Rede an die Nation zur Kenntnis genommen worden.

Die sich ausbreitenden Geschehnisse kennzeichnen einen neuen Versuch eines wichtigen Teils der islamischen Welt, den geschichtlichen Stau zu beenden, der ihr aufgezwungen worden ist. Beginnend mit den Industrialisierungsprogrammen Mohammad Ali Pashas in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts haben die Mächte des Westens einige frühere Versuche der Araber, die Bühne der Geschichte wieder zu erklimmen, rückgängig gemacht. Werden die Mächte des Westens erneut versuchen, sich diesem Neubeginn in den Weg zu stellen? Fast sicher, sie werden es offen und geheim versuchen. Ist es möglich, dass dieses Mal eine derartige Obstruktionspolitik zu spät kommt – und auch in die Hose geht? In den frühen 1920ern scheiterten die Mächte des Westens mit ihrer Absicht, die Türkei aufzusplittern. Sie scheiterten mit dem Versuch, die iranische Revolution zu stürzen. Werden sie sich jetzt gegen eine weitere Erhebung der Volksmacht in der arabischen Welt, in Afghanistan und Pakistan – und darüber hinaus - durchsetzen? 

 
     
  erschienen am 2. Februar 2011 auf > www.antiwar.com > Artikel  
  Die Weiterverbreitung der Texte auf dieser Website ist durchaus erwünscht. In diesem Fall bitte die Angabe der Webadresse www.antikrieg.com nicht zu vergessen!  
  <<< Inhalt