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  Iraksyndrom

 

Dieses Mal wird´s nicht genau so sein wie in Vietnam. Kein Helikopter, der die letzten Amerikaner vom Dach der Botschaft wischt. Ein Kontingent von 16.000 Leuten, die unter Vertrag mit dem Außenministerium stehen – über 5.000 davon bewaffnete Söldner – werden bleiben und das in Gang halten, was von der amerikanischen Operation im Irak übrig ist.

Es besteht jedoch kaum ein Zweifel daran, dass wir diesen Krieg verloren haben – nach jedem vernünftigen Maßstab. Jeder hat verloren, außer denjenigen, die von den Billionen profitiert haben (und weiterhin profitieren), die wir in die Invasion und Okkupation geblutet haben, und denjenigen, die sie geplant haben, von denen die meisten in Positionen bleiben, wo sie die Kriege planen oder zumindest begünstigen, die wir noch immer führen, und die Kriege, die noch kommen werden.

Aber in einem bestimmten tiefgründigen Sinn geht der Krieg im Irak, wie wir ihn im Lauf der vergangenen fast neun Jahre kennengelernt haben, zu Ende. Das Obama-Team konnte „die begeisternde, aber zerbrechliche irakische Demokratie“ (so die unsterblichen Worte Joe Liebermans in einem seiner absurden Kommentare in USA Today) nicht dazu bringen, die Immunität der amerikanischen Soldaten vor Strafverfolgung zu beschließen. Unser nobles Anliegen zitterte, brach zusammen, und einen Augenblick lang wurden wir zu einer Demokratie. Der Wille der Öffentlichkeit, krank vor Krieg, setzte sich durch.

Ich denke an das alles, wie ich vielleicht an einen wildgewordenen Autoalarm denken würde, der endlich aufhört – noch immer in meinen Ohren nachhallend, während Ärger und Enttäuschung noch immer meinen Körper quälen. Etwas, das nie hätte geschehen dürfen, hat endlich aufgehört, oder wird bald aufhören, aber mir ist beileibe nicht nach Feiern zumute.

„Wenn je etwas gutes aus dem Irakkrieg kommt,“ schrieb Michael Lind vor kurzem in Salon, „wird es in Form eines Iraksyndroms kommen, wie das Vietnamsyndrom, das die Amerikaner misstrauisch machte gegenüber groß angelegten militärischen Interventionen im Ausland vom Fall Saigons 1975 bis zum Golfkrieg 1990-1991. Das Mantra damals ging ‚Keine Vietnams mehr’. Das müsste dann erneuert werden auf: ‚Keine Iraks mehr!’“

Da stimme ich zu, aber ich glaube nicht, dass das weit genug geht. ‚Keine Vietnams mehr’ gilt noch immer: Die Öffentlichkeit hasst noch immer den Krieg, sogar die Neokonservativen geben zu, dass Vietnam eine Katastrophe war. Aus diesem Grund brauchten die Kriegsinteressenten eine Generation, um ihre Agenda umzugestalten, und letztlich die amerikanische Gesellschaft, um um diese Tatsache herumzukommen. Die Abschaffung der Wehrpflicht, zum Beispiel, anscheinend eine fortschrittliche Maßnahme, nahm den Faktor Eigeninteresse aus der Antikriegsbewegung.

Und die Kriegspropaganda wurde schlau und gutartig. Unsere militärischen Abenteuer nach Vietnam waren noch immer angstbesetzt, hatten aber auch „humanitäre“ Komponenten wie die Verbreitung der Demokratie oder die Verteidigung der Rechte der Frauen. Wir entwickelten „kluge Bomben“, die, wie Sie wissen, nur Infrastruktur zerstören. Und Colin Powell gab, als das Irakabenteuer hässlich zu werden begann, seine famose Erklärung ab: „Wir zählen keine Leichen.“ Keine täglichen Tötungsberichte in dieser Runde, das würde dem amerikanischen Magen nicht bekommen. Mit Hilfe der eingebetteten Medien wurde der Krieg weitgehend unsichtbar. Die Öffentlichkeit ging einkaufen. 

Welches „Syndrom“ auch immer sich rund um diesen katastrophalen Fehler zusammenfügt, es muss eine Intelligenz entwickeln, die über die Machenschaften hinausgeht, die ihn zustande gebracht haben. Damit das geschieht, müssen wir tief in das Herz der Folgen des Krieges blicken.

Die meisten Kommentare beschäftigten sich mit den zwei hervorstechenden Problembereichen aus der Sicht des nationalen Interesses: strategischen und wirtschaftlichen. Strategisch gesehen „verloren“ wir diesen Krieg und schafften es nicht, aus dem Irak einen stabilen, gehorsamen Alliierten zu machen. Stattdessen, wie Jonathan Steele neulich im Sunday Observer im Vereinigten Königreich schrieb, „ist dank des Sturzes Saddam Husseins, des größten Feindes des Iran, durch Bush der Einfluss Teherans im Irak heute viel stärker als der Amerikas.“

Wirtschaftlich gesehen kostete das Irakabenteuer mehr als der Zweite Weltkrieg, wie David R. Francis in The Christian Science Monitor neulich ausführte. Es verschwendete über $800 Milliarden an direkten Zuweisungen. Wenn dann weitere Kosten wie etwa die weiterführende medizinische Behandlung verwundeter Veteranen mitgerechnet werden, steigt der Geldfluss in atemberaubende Höhen jenseits aller Vorstellungen – bis zu $6 Billionen gemäß den breit veröffentlichten Berechnungen der Wirtschaftswissenschafter Joseph Stiglitz und Linda Bilmes. Bedenkt man, dass dieses Geld in Bildung, Gesundheitswesen und in den Wiederaufbau unser zerbröckelnden bankrotten Nation hätte gehen können, dann bekommt man einen ersten Eindruck von Gewicht und Ausmaß des Iraksyndroms.

Dann ist da die Zahl der Toten. Offiziell sind fast 5.000 Soldaten der Vereinigten Staaten von Amerika getötet worden, weitere 32.000 verwundet. Diese Zahlen geben nur einen schwachen Eindruck von dem Ausmaß, in dem die Leben der Veteranen zerrüttet worden sind. Die meisten von ihnen kommen aus dem überzogenen Einsatzturnus mit der einen oder anderen Form des PTSD (posttraumatisches Syndrom/Kriegskoller) zurück.

Die Zahlen geraten allerdings außer Rand und Band, und das Iraksyndrom schwillt an zu einer stürmischen Antikriegsbewegung, wenn wir die Folgen des Krieges vom Standpunkt der Iraker aus betrachten. Wir zählen keine Toten, aber vor einigen Jahren hat die britische medizinische Fachzeitschrift Lancet die Zahl der zivilen Getöteten auf über 650.000 geschätzt. Andere Schätzungen kommen auf über eine Million Tote. Zusätzlich wurden 4,7 Millionen Iraker aus ihren Häusern vertrieben. Und was ist mit der „begeisternden Demokratie,“ die wir gebracht haben? Laut Transparency International ist der Irak praktisch ein Versagerstaat, weltweit auf Platz 175 in Bezug auf Korruption, nur mehr vor Somalia, Myanmar und (hört, hört) Afghanistan, wie Medea Benjamin und Charles Davis auf Common Dreams berichtet haben. 

Letztendlich muss das Iraksyndrom die Bewusstheit unserer toxischer Hinterlassenschaft einschließen, besonders des radioaktiven Niederschlags, die Folge von tausenden Tonnen Munition mit abgereichertem Uran, die wir zur Explosion gebracht haben. Im vergangenen Jahr veröffentlichte das International Journal of Environmental Research and Public Health (Internationale Fachzeitschrift für Umweltforschung und Öffentliche Gesundheit) eine Studie über die verwüstete Stadt Fallujah, in der es unter vielem anderem darauf hinweist, dass dort die Quoten von Krebs, Leukämie und Kindersterblichkeit höher sind als in Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945. Und die Missgeburten nehmen überhand. „Junge Frauen in Fallujah fürchten sich davor, Kinder zu bekommen,“ berichtete eine Gruppe von britischen und irakischen Ärzten. 

Das Misslingen des Irakkriegs ist das Misslingen aller Kriege, in der Vergangenheit und in der Zukunft: nationale Politik führte zur Entmenschlichung eines Volkes. Eine militärisch-industrielle Wirtschaft erfordert, dass so eine Politik weiter geführt wird, daher wird sie es auch. Das Iraksyndrom ist vielleicht unsere beste Hoffnung, die Macht der Kriegsbereitschaft zu brechen, besonders wenn es die Überlegung mit einschließt, dass wir das, was wir anderen antun, uns letzten Endes selbst antun.

 
     
  Robert Koehlers Artikel erscheinen auf COMMONWONDERS.COM > Artikel , HUFFINGTON POST und vielen weiteren Websites und Zeitungen  
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