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  Lockerbie und die bulgarischen Krankenschwestern

Die Dämonisierung von Gaddafis Libyen

Diana Johnstone

Die derzeit aktuelle Ideologie zur Rechtfertigung des aggressiven Angriffskriegs basiert auf einer dogmatischen Gegensätzlichkeit von Demokratie und Diktatoren. Die Kriegstreiberpartei im Westen hat das Zentrum von internationalem Recht und Ordnung von den Vereinten Nationen verschoben auf einen exklusiveren Klub von „Demokratien,“ welche allein die entsprechende „Legitimität“ besitzen. Im Zentrum dieses Klubs befinden sich die englisch sprechende Welt plus Israel, die Europäische Union und Japan. Es ist davon auszugehen, dass diese „Internationale Gemeinschaft“ von Demokratien als einzige das moralische Recht hat zu entscheiden, wann der Führer eines Landes außerhalb dieses reizenden Kreises als „Diktator“ denunziert und mit Hilfe einer Bombenkampagne der NATO gestürzt werden darf. 

Diese Ideologie geht davon aus, dass Demokratien die Menschenrechte respektieren, während Diktatoren per definitionem Verbrecher sind, die systematisch gegen die Menschenrechte verstoßen und „Völkermord am eigenen Volk“ im Sinn haben könnten. Bestimmte Kleinigkeiten wie zum Beispiel die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten von Amerika die größte Gefängnispopulation der Welt haben, sowohl in absoluten Zahlen wie in relativer Hinsicht, und Gefangene als billige Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie benützen, haben in dieser dualistischen Weltsicht nichts zu suchen.  

Die Massenmedien halten diese Zwiespältigkeit aufrecht, indem sie einseitig über Länder berichten, die als „Diktaturen“ bezeichnet werden – unter denen sich auch solche befinden, deren Führer in der Tat gewählt sind, wie etwa Venezuela, Russland, Serbien unter Milosevic, Belarus, die aber versuchen, eine Politik zu betreiben, die dem Diktat der selbsternannten „Internationalen Gemeinschaft“ zuwiderläuft. Nicht alle diese Länder werden militärisch angegriffen, aber das Image, das da aufgebaut wird, macht es leicht, einen militärischen Angriff zu rechtfertigen, wenn die Zeit dazu gekommen ist.  

Die selektive Berichterstattung reduziert das Land auf den „Diktator” und eine Minderheit von „Kämpfern für die Demokratie“. Der „Diktator“ wird hingestellt als Verbrecher ohne gute Seiten, auf denen möglicherweise die öffentliche Unterstützung in seinem eigenen Land beruhen könnte.

Der Fall Libyen

Am Beispiel Libyens sieht man, wie es funktioniert. Eine Jahrzehnte lange einseitige Berichterstattung verfestigte das Bild des libyschen Anführers Muammar Gaddafi als das eines verrückten Kriminellen. Für die Öffentlichkeit in den Ländern des Westens, deren einzige Kenntnis Libyens aus westlichen Medienberichten stammt, sollte offenkundig sein, dass die Menschen in Libyen einhellig einen solchen Führer loswerden wollten.

Es liegt auf der Hand, dass es in Libyen Leute gibt, die Gaddafi hassen und ihn loswerden wollen. Nicht klar ist allerdings, was diese an seine Stelle setzen wollen und wie repräsentativ sie überhaupt für die Bevölkerung insgesamt sind.

Im Westen bildete in den letzten Jahren der Bombenanschlag von Lockerbie den hauptsächlichen Grund, Gaddafi zu hassen. Zwei Jahrzehnte lang wurde die Anschuldigung, dass der libysche Anführer verantwortlich sei für den terroristischen Bombenanschlag auf den PanAm-Flug 103 im Jahr 1988 über Lockerbie in Schottland, von den Massenmedien im Blickfeld der Öffentlichkeit behalten.

Im vergangenen Februar behaupteten Führer der beginnenden Rebellion in Libyen in Interviews mit westlichen Medien, sie hätten schriftliche Beweise dafür, dass Gaddafi die terroristische Attacke angeordnet hat, die den Tod von 270 Menschen zur Folge hatte. Mustafa Abdel Jalil, der ehemalige libysche Justizminister, der die „Nationale Übergangsregierung“ (NTC – National Transitional Council) in Benghazi anführt, sagte dem Daily Telegraph: „die Befehle sind von Gaddafi selbst erteilt worden.“

Wenige im Westen werden dagegenhalten, dass, wenn die NTC-Führer wirklich über derartige Beweise verfügen, sie Jahrzehnte lang Komplizen bei dem Verbrechen waren. Die Medien des Westens werden auch nicht die Frage stellen, warum der gerissene Gaddafi „schriftliche Beweise“ für die Anordnung eines terroristischen Anschlags 23 Jahre lang herumliegen ließ. 

Diese Behauptungen dienen dazu, die NTC-Führer mit den Mächten des Westens zu verbünden, namentlich den Vereinigten Staaten von Amerika und dem Vereinigten Königreich, und eine gemeinsame rechtliche Verbindung zwischen ihnen zu suggerieren gegen „den Verbrecher Gaddafi.“ Sie tragen dazu bei, die Fiktion von „legitimen, repräsentativen Anführern des libyschen Volkes“ aufzubauen, deren Ansichten über Menschenrechte, Demokratie und die Untaten des bösen Diktators Gaddafi mit den westlichen Ansichten übereinstimmen, wie sie von den Politikern und Medien des Westens zum Ausdruck gebracht werden.

Stillschweigend wussten die Menschen in Libyen also insgesamt, dass ihr Anführer ein Massenmörder ist. Das muss ein Grund sein, aus dem die anständigen Bürger ihn loswerden wollen. Aber stimmt das?

Lockerbie in Libyen

Mein Besuch in Libyen im Januar 2007 zur Teilnahme an einer internationalen Konferenz über den Internationalen Strafgerichtshof gab mir die Möglichkeit, im privaten Rahmen Gespräche mit einer Reihe von gut gebildeten Libyern zu führen, die eindeutig mehr über den Westen wussten als der Westen über sie. Ich interessierte mich besonders dafür, einen Eindruck von der Meinung des libyschen Normalbürgers über zwei Themen zu bekommen, die zu dieser Zeit die Sichtweise des Westens betreffend Libyen dominierten: Lockerbie und die Sache mit den bulgarischen Krankenschwestern. Ich sollte erwähnen, dass ich niemals in die Nähe Gaddafis kam, und dass die Konferenz veranstaltet wurde von Akademikern, die unterschiedliche Meinungen über wichtige Themen vertraten, die auch oft von der des Führers abwichen, was aber keinen zu kümmern schien. In der Angelegenheit Lockerbie entdeckte ich jedoch zwei allgemein weit verbreitete übereinstimmende Linien.

Zum ersten glaubte niemand, dass Libyen die Verantwortung für den Bombenanschlag von Lockerbie trägt. Es wurde als Gewissheit betrachtet, dass Libyen aus politischen Gründen zu Unrecht beschuldigt worden war.

Andererseits war klar, dass die Sanktionen, die der Westen gegen Libyen verhängt hatte, um es für die angebliche Schuld zu bestrafen, zu Beschwernis und Unzufriedenheit geführt hatten. Der Westen hat die Macht, einerseits Sanktionen zu verhängen, und andererseits seine Vorstellungen als ernstzunehmende Einmischung in die heimische Politik der betroffenen Länder zu tragen, nachdem viele Menschen, besonders die jungen, in einem „normalen“ Land leben wollen und die Anführer ablehnen könnten, welche bewirken, dass sie vom Westen als Pariahs behandelt werden. Aus diesem Grund war die allgemeine Auffassung, dass Gaddafi letztlich dem Druck des Westens nur nachgegeben habe, die Verantwortung – nicht jedoch die Schuld – für Lockerbie zu übernehmen, um die Aufhebung der unpopulären Sanktionen zu erreichen. Die Tatsache, dass er zustimmte, zwei libysche Bürger einem westlichen Gericht zu übergeben, das sie für das Verbrechen verurteilen sollte, und über zwei Milliarden Dollars als Schadenersatz für die Opfer zu bezahlen, war ausdrücklich keine Eingeständnis von Schuld, sondern vielmehr eine Antwort auf die Erpressung durch die Großen Mächte, um die Beziehungen zu normalisieren und um die allgemeinen Lebensbedingungen zu verbessern. 

Das überraschte mich nicht, da ich im Lauf der Jahre viel über den Fall Lockerbie gelesen hatte. In der Tat ist viel geschrieben worden, das die Schwäche der Argumentation der Strafverfolgung offen legte, welche auf einem völlig unplausiblen Szenario beruhte (eine Bombe, mit der ein transatlantischer Flug in die Luft gejagt werden sollte, wurde angeblich über die Flughäfen in Malta, Frankfurt und London geschickt), technisches „Beweismaterial,“ das von Agenten der CIA manipuliert worden war, und einen Zeugen, der reichlich belohnt wurde für eine Aussage, die nicht den Tatsachen entsprach. Über das alles wurde schon viele Male gesprochen, zum Beispiel von Andrew Cockburn im CounterPunch Newsletter, oder in der London Review of Books vom britischen Anwalt Gareth Peirce. Die Tatsache, dass der Fall wiederholt durch sorgfältige Analysen als wahrscheinliche Justizfarce aufgeblättert wurde, machte nicht den leisesten Eindruck auf die Massenmedien und die Politiker, die weiterhin Gaddafi als das Monster bezeichnen, das das Massaker von Lockerbie angeordnet hat.

Man könnte hinzufügen, dass zum Zeitpunkt des Ereignisses im Jahr 1988 weitgehend angenommen wurde, dass der Iran die Attacke angeordnet hatte als Vergeltung für den Abschuss eines iranischen Passagierflugzeugs über dem Persischen Golf. Als die Vereinigten Staaten von Amerika, nachdem sie von ihrer antiiranischen Allianz mit dem Irak zum Krieg gegen Saddam Hussein übergingen, sich dafür entschieden, stattdessen Libyen zu beschuldigen, wurde nie ein Motiv angegeben. Aber wenn ein „Diktator“ als Monster hingestellt wird, dann braucht es kein Motiv. Er tat es, weil das die Art von Dingen ist, die bösartige Diktatoren halt so machen.

Gegen die beiden beschuldigten Angestellten der Libyan Airline, die in Malta arbeiteten, wurde im Jahr 2000 ein Verfahren durchgeführt von drei schottischen Richtern, ohne Geschworene, in einem eigens gebauten Gericht in den Niederlanden. Einer der Libyer wurde freigesprochen und der andere, Abdel Basset al-Megrahi, wurde schuldig gesprochen und zu 27 Jahren Gefängnis verurteilt. Der Beobachter der Vereinten Nationen bei diesem besonderen Verfahren, Hans Köchler, bezeichnete den Schuldspruch als „unfassbar,“ „willkürlich, ja irrational“ und erwähnte besonders eine „Atmosphäre von internationaler Machtpolitik,“ die sich durch das Verfahren zog.  

Am 12. November 2006 zitierte der Glasgow Sunday Herald den obersten Rechtsberater des Außenministeriums Michael Scharf, welcher als Anwalt des Antiterrorismusbüros der Vereinigten Staaten von Amerika tätig war, als die beiden Libyer wegen des Bombenanschlags angeklagt wurden, der den Fall bezeichnete als „so voller Löcher, dass er war wie ein Schweizer Käse“ und sagte, dass dieser nie vor Gericht hätte kommen dürfen. Er behauptete, dass CIA und FBI den Vertretern des Außenministeriums versichert hätten, die Sache gegen die beiden Libyer sei hieb- und stichfest, die beiden Agenturen aber in Wirklichkeit schon lange vor dem Verfahren wussten, dass ihr Starzeuge „ein Lügner“ war. Aber große Mächte können nicht klein beigeben. Ihre geheiligte „Glaubwürdigkeit“ steht auf dem Spiel. Kurz gesagt, sie müssen weiterhin lügen, um den Anschein der Unfehlbarkeit aufrecht zu halten. 

In der Zeit, in der ich in Tripoli war, versuchte das Verteidigungsteam des verurteilten Libyers Berufung gegen das Urteil bei einem höheren Gericht einzulegen. Ich konnte eine der Anwältinnen in Megrahis Verteidigungsteam erreichen. Ich verbrachte lange Zeit in ihrem Büro und versuchte, ihre Zurückhaltung zu überwinden, über den Fall zu sprechen. Schließlich war sie bereit, mit mir zu sprechen, wenn ich versprach, unser Gespräch bei mir zu behalten, um nicht eine Beeinträchtigung der Berufung zu riskieren. Jetzt haben sich die Umstände drastisch geändert. 

Hier ist kurz, was sie mir sagte:

Die schottischen Richter standen unter enormem Druck, die beiden Libyer zu verurteilen. Immerhin war deren Schuld seit Jahren von den Vereinigten Staaten von Amerika hinausposaunt worden zusammen mit der Forderung, sie „der Justiz zuzuführen.“ Ein spezielles Gericht war eingerichtet worden mit dem offensichtlichen Zweck, sie zu verurteilen. Die Beweise, die eine Verurteilung vor einem ordentlichen schottischen Gericht erfordert, waren allerdings einfach nicht vorhanden. Das Beste, was die Richter sich zu tun getrauten, war einen der Beschuldigten freizusprechen und die Verantwortung für den Freispruch des zweiten an eine höhere Instanz abzutreten. Zur Bestürzung des libyschen Verteidigungsteams umging das angerufene Berufungsgericht die riskante Angelegenheit, indem es sich für nicht zuständig erklärte. Es wurde also eine Berufung an ein anderes Obergericht vorbereitet, ergänzt mit neuen Beweisen, die die Position der Anklage noch aussichtsloser machten. 

Und tatsächlich beschloss fünf Monate später, am 28. Juni 2007, die schottische Berufungskommission für Strafsachen, die den Fall seit 2003 untersucht hatte, dass Abdel Basset al-Megrahi eine zweite Berufung gegen seine Verurteilung zu gewähren sei. Die Kommission gab bekannt, sie habe sechs verschiedene Gründe für die Annahme gefunden, dass seine Verurteilung ein Fehlurteil gewesen sein könnte. Diese Ankündigung verursachte eine Sensation in den kleinen Kreisen, die die Angelegenheit verfolgten. Es sah so aus, als wäre die schottische Justiz mutig genug, um sich durchzusetzen und Anhörungen zuzulassen, die die Fälschungen der CIA ans Licht bringen würden. 

Solche Sachen mögen in Filmen geschehen, in der realen Welt läuft es anders.

Ein schäbiger Handel

Was dann geschah, trug bei zu der Vorbereitung des NATO-Angriffs auf Libyen in diesem Jahr.

Die Zeit verging. Es war zwei Jahre danach, im April 2009, als die Berufung endlich so weit war, um in Gang zu kommen. Inzwischen ging jedoch hinter den Kulissen eine geheime Mauschelei vor sich, zwischen durchgesickerten Nachrichten und Gerüchten.

Am 21. August 2009 wurde Abdel Basset Ali Mohmed al-Megrahi, der an einer Krebserkrankung im Endstadium litt, von der schottischen Justizministerin Kenny MacAskill aus dem Gefängnis in Schottland entlassen, und ihm gestattet, „heimzukehren, um zu sterben.“

Es geschah, dass im Jahre 2007 Tony Blair nach Libyen reiste, um mit Gaddafi über ein britisch-libysches Abkommen zu verhandeln, in dem es um Recht, Auslieferung und Gefangenenüberstellung ging. Gemäß diesem Gefangenenüberstellungsabkommen verlangten die libyschen Behörden, dass Megrahi aufgrund seiner Krankheit nachhause geschickt werden solle. 

Der Haken lag darin, dass das Gefangenenüberstellungsabkommen nur zur Anwendung kommen konnte, wenn keine rechtlichen Schritte mehr ausständig waren. Um also in dessen Genuss zu kommen, musste Megrahi seine Berufung zurückziehen.

Die Angelegenheit wird durch die Tatsache kompliziert, dass er formell aus Gründen des „Mitleids” entlassen wurde. So oder so, der Handel war eindeutig: al-Megrahi konnte nachhause fahren, aber mit der Berufung war es aus. Hans Köchler, der Sonderbeobachter der UNO beim Lockerbie-Verfahren, war der Meinung, dass Megrahi wahrscheinlich einer „moralisch himmelschreienden“ Erpressung ausgesetzt worden sein wird, um seine Berufung gegen seinen Willen zurückzuziehen.

Der schäbige Aspekt dieses Handels ist, dass er Megrahi um das Recht brachte, seine Ehre wiederherzustellen, während die Täuschungsmanöver der CIA offiziell im Dunkel blieben. Es gab nichts, was dem Protestchor von Hillary Clinton abwärts entgegengesetzt werden konnte, welcher Schottland beschimpfte, weil es „den Lockerbie-Bomber freigelassen hat“. Zwei Jahre danach führten Nachrichten, dass Megrahi immer noch nicht gestorben ist, zu weiterer Entrüstung bei den Medien des Westens, die das als Beweis betrachteten, dass das Vereinigte Königreich „den Lockerbie-Bomber für libysches Öl verkauft hat“. Natürlich muss der Eindruck vermittelt werden, dass der gerissene libysche Diktator die naiven, aber gierigen Briten mit Tricks dazu gebracht hat, ihre Grundsätze für Erdöl zu verkaufen.

Es ist allerdings genauso wahrscheinlich, dass es der naïve libysche Diktator war, der von den skrupellosen Briten in den Glauben hineingetrickst wurde, er habe ein „Gentleman´s Agreement“ getroffen. Statt eine Berufung abzuwickeln, die das Risiko einer heftigen Blamage der Autoritäten des Westens in sich barg, konnte Megrahi entlassen und die Angelegenheit vergessen werden. Der öffentliche Jubel über Megrahis Rückkehr in die Heimat wurde in Libyen gedämpft, aber die Medien des Westens gaben vor, schockiert zu sein, weil ein verurteilter Massenmörder wie ein Held willkommen geheißen wurde. In Wirklichkeit wurde er zuhause diskret begrüßt als ein unschuldiger Mann, der unrechtmäßig verurteilt worden war, nicht als Massenmörder. Und wann immer er sich Gehör verschaffen konnte, hat er seinen Wunsch wiederholt, seinen guten Namen wiederherzustellen.

Die bulgarischen Krankenschwestern

Das andere Thema, über das ich mich erkundigte, als ich 2007 in Tripoli war, war die Misere der bulgarischen Krankenschwestern. 2004 waren fünf bulgarische Krankenschwestern und ein palästinensischer Arzt, die in einem Krankenhaus in Benghazi arbeiteten, zum Tode verurteilt worden, weil sie angeblich Kinder mit dem HIV-Virus infiziert hatten. Jeder im Westen, ich eingeschlossen war der Meinung, dass das ein empörendes Unrecht sei. Als ich diese Angelegenheit bei sehr westlich orientierten liberalen libyschen Intellektuellen zur Sprache brachte, war ich voller Erwartung, auf Kritik an dem Diktator zu stoßen, der die wehrlosen Mediziner drangsalierte. Ich war sehr überrascht, als die Reaktion ziemlich anders ausfiel.

„Natürlich sind sie unschuldig,“ sagte ich.

Der Gentleman, mit dem ich mich unterhielt, den ich locker als anti-Gaddafi beschreiben könnte, schüttelte seinen Kopf. „Das ist nicht so eindeutig,“ antwortete er. Und so begann ich zu lernen, was einige Monate später von Harriet Washington in einem Kommentar in der New York Times erläutert wurde, nämlich:

„Die Beweise gegen das bulgarische medizinische Team, wie etwa mit HIV verseuchte Ampullen, die in ihren Wohnungen gefunden wurden, erschienen Leuten im Westen grotesk. Aber die libyschen Anklagen wegen medizinischer Pflichtverletzungen einfach abzutun bedeutet, eine Gelegenheit nicht zu nützen, verstehen zu lernen, warum ein gefährlicher Argwohn gegenüber der Medizin in Afrika so weit verbreitet ist.

„Afrika hat eine Zahl hochkarätiger westlicher medizinischer Schurken beherbergt, welche absichtlich tödliche Substanzen unter dem Vorwand zur Anwendung brachten, Heilung herbeizuführen oder Forschung zu betreiben.“

Meine Gespräche in Libyen überzeugten mich nicht von der Schuld der bulgarischen Krankenschwestern, aber sie gaben mir einen neuen Einblick in die libysche Sichtweise. Auf dem afrikanischen Kontinent war es sogar für sehr rational denkende Menschen leicht zu glauben, dass ausländisches medizinisches Personal hätte bezahlt worden sein können, um Kinder zu infizieren, sei es für experimentelle Zwecke, oder um das öffentliche Gesundheitssystem zu „destabilisieren.“ Zum zweiten stellte sich heraus, dass das kein Fall war, in dem „der Diktator Gaddafi“ Unschuldige verfolgte. Verhaftung, angebliche Folter und Verurteilung der bulgarischen Krankenschwestern erfolgten durch die Behörden in Benghazi. Tatsächlich beschwerte sich der bulgarische Premierminister Boyko Borisov am vergangenen 11. März, dem Tag nach der Anerkennung des Nationalen Übergangsrates der Rebellen durch Frankreich als „einzige legitime Vertretung des libyschen Volkes“ bei einem europäischen Gipfel, dass Schlüsselpersonen dieses Rates in Benghazi „diejenigen Leute sind, die die bulgarischen Krankenschwestern acht Jahre lang gefoltert haben und dass uns das fast $60 Millionen an Zahlungen für die Schadensgutmachung an die infizierten Kinder und deren Familien gekostet hat.“

Im Januar 2007 wurde mir auch von Leuten in Tripoli versichert, dass die Todesurteile gegen die Krankenschwestern nie vollstreckt würden. Das stimmte. Im August des selben Jahres wurden sie durch die Gaddafi-Familie befreit und ihnen gestattet, nach Bulgarien heimzukehren, nach einer sehr publik gemachten Reise der damaligen Gemahlin des französischen Präsidenten Sarkozy, Cecilia, nach Libyen. Diese Freilassung wurde präsentiert als endgültige Aussöhnung zwischen Gaddafis Libyen und Europa.  

Ich verzichtete seit Jahren darauf, über diese Dinge zu schreiben, da ich den Eindruck habe, dass ich nicht genug über Libyen weiß. Jetzt sehe ich jedoch andere, die noch weniger wissen, und lauthals die Unterstützung der Rebellen durch die NATO in einem Bürgerkrieg befürworten, dessen wirkliche Gründe und Konsequenzen verworren sind.

Meine erste Schlussfolgerung besteht in dem Hinweis, dass die Tatsache, dass ein Land keine Demokratie westlichen Stils ist, noch keineswegs bedeutet, dass alles, was dort geschieht, von einem „Diktator” „diktiert” wird. Der Begriff „Diktator“ dient der Faulheit der Medien und der Politiker, die sich nicht darum kümmern und sich nicht bemühen, die Zusammenhänge in einer unbekannten Gesellschaft zu untersuchen.

Meine zweite und letzte Schlussfolgerung ist, dass wir im Westen weder das Recht noch die Fähigkeit haben, diese unbekannten Gesellschaften wie etwa in Libyen, die wir als „Diktaturen“ abtun, zu „verbessern“. Während die Finanzkrise droht, die Lebensbedingungen in großen Teilen des Westens unter diejenigen zu drücken, die in Gaddafis Libyen herrschten, bevor die NATO dort interveniert hat, läuft unsere westliche „Demokratie“ Gefahr, scheibchenweise auf einen rein ideologischen Vorwand reduziert zu werden, um die Länder anderer Völker anzugreifen, auszuplündern und zu verwüsten. 

 
     
  erschienen am 31. August 2011 auf > Counterpunch > Artikel  
  Diana Johnstone ist Autorin von Fools’ Crusade (Narrenkreuzzug).  
 
 
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