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  Ist die Revolution nach Ägypten gekommen?

Gwynne Dyer

Zwei Drittel der 80 Millionen Ägypter wurden geboren, seit Mubarak an der Macht ist, und sind nicht dankbar für die Armut, Korruption und Repression. Sie haben ihre Angst vor dem Regime verloren.

Heute um 3 Uhr nachmittags skandierten die Demonstranten im Stadtzentrum von Kairo: „Wo ist die Armee? Sie soll kommen und sehen, was die Polizei uns antut. Wir wollen die Armee.“ Und das ist die wirklich wichtige Frage: wo steht die ägyptische Armee in all dem? 

Wie Armeen überall, sogar in Diktaturen, will die ägyptische Armee keine Gewalt gegen ihr eigenes Volk einsetzen. Sie möchte derlei Dinge viel lieber der Polizei  überlassen, die im Allgemeinen durchaus bereit ist, das zu tun. Aber in Alexandria hörte heute mitten am Nachmittag die Polizei auf, gegen die Demonstranten zu kämpfen und begann mit ihnen zu sprechen. So enden Regimes.

Zu allererst realisiert die Polizei, dass sie es mit einer genuinen Volksbewegung zu tun hat, die alle Klassen und Lebenbereiche umfasst, und nicht nur mit den extremistischen Agitatoren, von denen die Propaganda des Regimes behauptet, dass sie gegen diese kämpft. Sie realisiert, dass es falsch wäre – und auch sehr unklug – auf die Köpfe im Dienst eines Regimes einzudreschen, das mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit bald verschwinden wird. Am besten die Seiten wechseln, ehe es zu spät ist.

Dann sagt die Armee, die sieht, dass das Spiel vorbei ist, dem Diktator, dass es Zeit ist, das Flugzeug zu besteigen und abzufliegen, um anderswo mit seinem Geld zu leben. Ägyptens Herrscher Hosni Mubarak war General, bevor er Präsident wurde, und er hat immer darauf geachtet, dass dem Militär reichlich Geld und Privilegien zuflossen, aber in der Politik gibt es keine Dankbarkeit. Sie werden nicht mit ihm in den Abgrund gerissen werden wollen.

Das alles könnte sehr schnell geschehen, oder es könnte im Lauf der kommenden paar Wochen geschehen, aber es wird wahrscheinlich geschehen. Sogar autokratische und repressive Regimes müssen eine Art Zustimmung seitens des Volkes haben, denn man kann nicht genug Polizei anstellen, um jeden zu zwingen zu gehorchen. Sie erzwingen diese Zustimmung durch Angst: die Angst der gewöhnlichen Bürger um ihre Arbeitsplätze, um ihre Freiheit, sogar um ihr Leben. Wenn also die Menschen ihre Angst verlieren, ist das Regime erledigt.

Es würde eines wahrlich schrecklichen Massakers bedürfen, um den Ägyptern wieder die Angst einzuimpfen, und in dieser Phase werden weder die Polizei noch die Armee bereit sein, das durchzuführen. Was passiert also, wenn Mubarak das Land verlässt? Niemand weiß es, da niemand diese Revolution anführt.

Die ersten Menschen auf den Straßen waren junge Universitätsabsolventen, die vor einem Leben der Arbeitslosigkeit stehen. Nur wenige Tage später gewannen die Demonstrationen an Boden und umfassten Menschen aus allen sozialen Schichten und Lebensbereichen.

Sie haben kein Programm, nur die Überzeugung, dass es höchste Zeit ist für einen Wechsel – Kifaya! („Genug ist genug!“), wie es die Kurzbezeichnung einer ägyptischen Oppositionspartei ausdrückte, die in der Mitte des letzten Jahrzehnts florierte. Zwei Drittel der 80 Millionen Ägypter wurden geboren, seit Mubarak an die Macht gekommen ist, und sie sind keineswegs dankbar für die Armut, Korruption und Repression, die ihre Leben bestimmen und einengen. Wer aber kann das alles in Ordnung bringen?

Washington und die anderen Hauptstädte des Westens, die Mubarak die vergangenen drei Jahrzehnte hindurch unterstützt haben, beten, dass die Revolution Mohamed ElBaradei, den ehemaligen Chef der Internationalen Atomenergieagentur als ihren Führer wählen wird. Am letzten Donnerstag flog dieser zurück nach Ägypten, und das Regime nimmt ihn sogar ernst genug, um ihn unter Hausarrest zu stellen. Aber er ist wahrscheinlich nicht der Auserwählte.

ElBaradei ist ein Diplomat, der sein halbes Leben im Ausland verbracht hat und von den Regierungen des Westens als ein „sicheres Paar Hände“ betrachtet wird. Er wäre bestenfalls ein Aushängeschild, aber ein Aushängeschild für wen?

Nachdem es die Armee sein dürfte, die schlussendlich Mubarak sagt, er solle verschwinden, dürfte das Militär das interimistische Regime dominieren. Sie werden nicht gleich einen anderen General an die Spitze stellen wollen, könnten also entscheiden, dass ElBaradei der richtige Kandidat für einen interimistischen Führer ist, schon aus dem Grund, dass er über keine unabhängige Machtbasis verfügt. Aber es würde dann zu Wahlen kommen müssen, und ElBaradei würde nicht einmal in die Nähe eines Sieges kommen.

Wahrscheinlicher Gewinner einer authentischen freien ägyptischen Wahl wäre gemäß den meisten Meinungsumfragen die Moslem-Brüderschaft. Die Brüder sind nicht so radikal, wie es von Islamisten angenommen wird, aber sie haben versprochen, dass sie, falls sie an die Macht kommen, als erstes eine Volksabstimmung über Ägyptens Friedensvertrag mit Israel abhalten werden. Und die meisten Ägypter würden laut den gleichen Umfragen dafür stimmen, diesen zu kündigen.

Das würde den Zufluss von offizieller Hilfe der Vereinigten Staaten von Amerika und privaten ausländischen Investitionen, die derzeit die ägyptische Wirtschaft mehr oder weniger am Leben erhalten, beenden, auch wenn es wahrscheinlich nicht zu einem Krieg kommen würde. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass eine islamische Regierung die ägyptische Wirtschaft zu schnellerem Wachstum bringen würde, sie würde aber die Armut fairer aufteilen.

Diese längerfristigen Überlegungen werden allerdings keine Auswirkungen auf die Ereignisse der kommenden paar Wochen haben, in denen das Beispiel Ägypten ähnliche Revolten gegen heruntergekommene Regimes in anderen Teilen der arabischen Welt entzünden könnte – oder nicht, was auch sein kann. Aber es geht nicht mehr nur um Tunesien. Ägypten ist weitaus das größte arabische Land und kulturell das einflussreichste. Was dort geschieht, hat wirklich Bedeutung.

 
     
  erschienen am 28. Januar 2011 in > THE ORANGE COUNTY REGISTER > Artikel   
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