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  Für sie hat das Leben keinen Wert?

Koloniale Denkmuster in Afghanistan

Jeremy Sapienza 

In dieser Woche behauptete der in der Provinz Helmand stationierte Lt.Col. (Oberstleutnant) Michael Manning, dass es schwierig ist, die Taliban zu besiegen, teilweise deshalb, weil sich die Afghanen „so wenig um das menschliche Leben“ kümmern. Es ist eine bedauerliche Tatsache, dass afghanische Kinder von den Taliban angeworben und sogar gezwungen werden, am Kampf gegen das teilzunehmen, was die meisten Afghanen als fremde Okkupation betrachten. Während aber die Widersprüche in der Kriegspropaganda des Westens weitschweifig und verschachtelt sind, sind wenige so zynisch wie die ewige Behauptung, dass die Kulturen, die wir mit unseren Kriegen zerfleischen, sich nicht um Leben kümmern, das zu führen ihnen niemals wirklich erlaubt war.

Es ist kaum zu bezweifeln, dass viele Kinder in einem Land, das von den größten und mächtigsten Armeen der Welt unterdrückt wird, in den Krieg mit einbezogen werden. Immerhin existiert die Wirtschaft Afghanistans so gut wie nicht – das Bruttoinlandsprodukt beträgt nur $ 26 Milliarden, kaum $ 100 pro Kopf. Die Städte sind im Lauf der letzten 30 Jahre mehrere Male zerstört worden. Kinder suchen Nahrung und versetzen Waren auf der Straße, um für jüngere Familienmitglieder zu sorgen. All das nach zehn Jahren der Intervention und hunderten Milliarden Dollars, die von Regierungen des Westens auf das Land geschleudert worden sind. Afghanistan hat wenige vom Markt angeregte Investitionen gesehen, weil in der realen Welt außerhalb der Keynesianischen Traumwelt Krieg furchtbar für das Geschäft ist, wenn man nicht Geschäft mit dem Krieg macht. So sieht es aus für die Menschen in Afghanistan, die Jugend eingeschlossen.

Die Taliban selbst sind die Kinder früherer Konflikte mit einer fremden Macht, der Sowjetunion. Sie kennen keine andere Lebensweise dank der ständigen und wechselnden Invasionen und Interventionen. Die Taliban sind keine Organisation, sondern eine Ideologie: geschmiedet im Krieg, bestärkt durch den Schrecken von Bombardierungen und Blockaden und Schoßhundregierungen, die alles außer dem Gemeinwohl der einfachen Menschen im Sinn haben.

Dennoch handeln diejenigen, die für die derzeitige Situation in Afghanistan verantwortlich sind, als hätte die Geschichte gerade gestern begonnen, mit den Afghanen als kämpferischen Leuten, die nichts lieber tun, als die eigenen Kinder als menschliche Schutzschilde zu benutzen. Es ist davon auszugehen, dass diese Kinder Opfer sind, bis sie den Vereinigten Staaten von Amerika in die Hände fallen, zu welchem Zeitpunkt die Vereinigten Staaten von Amerika dann irgendwie berechtigt sind, sie zu misshandeln, zu foltern, sie unbefristet einzusperren und mit ihnen einen Schauprozess zu veranstalten. Genau das ist es, was mit dem in Kanada geborenen Omar Khadr passiert ist. Der verwundete 15-jährige wurde beschuldigt, 2002  in Afghanistan eine Granate auf einen amerikanischen Soldaten geworfen zu haben. Die nächsten acht Jahre wurde er im rechtsfreien Raum in Amerikas eigenem gesetzlichen Schwarzen Loch festgehalten, im Gefangenenlager in Guantánamo, Kuba, wo er gefoltert und zu falschen Geständnissen gezwungen wurde, die gegen ihn vor dem Militärgericht verwendet werden sollen. Khadr selbst wurde angeblich von seinem eigenen Vater in den Kampf gezwungen – obwohl Afghanistan eine totale Kriegszone ist, in der es für viele ohnehin unmöglich sein wird, dem Krieg zu entkommen.  

„Für sie hat das Leben keinen Wert“ – Kolonialisten aller Nationalitäten, schon vor den Römern, sagten etwas in dieser Art, um ihre eigene Geringschätzung des Lebens zu rechtfertigen. Vielleicht wird das Bombardieren ihrer Familien den Einheimischen diesen Wert beibringen? Man kann fast einen verdrießlichen Marinesoldaten hören, wie er so etwas sagt. Es ist die Höhe der Scheinheiligkeit, das Verhalten der Taliban mit solchen Worten herablassend herunterzuspielen, obwohl so gut wie keine andere Kultur aus einer dermaßen widerlichen jüngeren Geschichte hervorgehen hätte können, die zu einem guten Teil von dem Land verursacht worden ist, das sich diese Beurteilung anmaßt.

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind nicht nur schuldig, selbst Kindersoldaten einzusetzen – man kann immerhin mit 17 in die Armee eintreten, und diejenigen, die als nicht alt genug betrachtet werden, um Alkohol trinken zu dürfen, dürfen nichtsdestotrotz im Krieg sterben – sie sind auch schuldig, die Kindersoldaten des Gegners zu foltern, wenn sie ihrer habhaft werden. In einer Zeit, in der Drohnen der Vereinigten Staaten von Amerika entlang des Hindukusch nahezu täglich zivile Menschen einschließlich Kindern in Rauch aufgehen lassen, ist es schwer zu glauben, dass Amerika über große moralische Autorität in der Frage des Wertes von Leben verfügt. 

 
     
  Erschienen am 8. Oktober 2010 auf > http://www.antiwar.com > http://original.antiwar.com/jeremy/2010/10/07/they-dont-value-life/   
     
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