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  Was haben wir ihnen denn getan?

Ira Chernus 

Zwischen politisch Linken und Rechten ist mir ein großer Unterschied aufgefallen. Sogar in den schlimmsten Zeiten haben die Linken einen Sinn für Humor. So war ich auch nicht überrascht, als der große alte Mann der israelischen Linken Uri Avnery auf den Überfall seiner Regierung auf die Gaza-Hilfsflotte mit einem alten jüdischen Witz reagierte. Avnery kämpft gegen die militaristische Politik seines Landes schon länger, als die meisten von uns leben. Mit 86 Jahren kann er die Empörung noch immer mit Humor überdecken. 

In seiner Antwort auf den Überfall machte er klar, dass er empört war, weil die Gewalt vorsätzlich geplant war: „Die Befehle, die den [israelischen] Streitkräften erteilt und in der Öffentlichkeit bekannt wurden enthielten die drei verhängnisvollen Worte: ‚um jeden Preis.’ Jeder Soldat weiß, was diese schrecklichen Worte bedeuten.“  

Und er war empört über Israels Behauptung, es sei unschuldig: „Wir stürmen ein fremdes Schiff auf hoher See, werden aber sofort zu Opfern, die keine Wahl haben, als uns gegen gewalttätige und aufgehetzte Antisemiten zu verteidigen.“ Die israelische Regierung ist so abgespalten von der Wirklichkeit, schrieb Avnery, dass „ein Psychiater das als Symptom eines schwerwiegenden psychischen Problems bewerten könnte.“ 

Das Herz der Angelegenheit traf er aber mit diesem Witz. Es ist der von der jüdischen Mutter in Russland, die sich von ihrem Sohn verabschiedet, der in die Armee des Zaren einberufen worden war, um im Krieg gegen die Türkei zu dienen. „Überanstreng dich nicht,“ fleht sie ihn an. „Töte einen Türken und raste. Töte den nächsten Türken und ruh dich wieder aus.“

„Aber Mutter,” unterbricht sie der Sohn, „was ist, wenn der Türke mich tötet?“

„Dich?” ruft die Mutter. „Aber warum? Du hast ihm doch nichts getan!“

„Unsere Regierung rastet nicht einmal,” schloss Avnery bedauernd. „Es schaut so aus, als würden sie nicht aufhören, ehe sie nicht die letzten unserer Freunde zu Feinden gemacht haben.“

Es ist bemerkenswert, dass Avnerys Kommentat in Ma´ariv veröffentlicht wurde, der zweitgrößten israelischen Zeitung. Obwohl eine beachtliche Mehrheit der Israelis das Chaos unterstützte, das ihre Truppen auf hoher See verbrochen hatten, sind abweichende Ansichten in den Massenmedien dort noch immer erlaubt wie immer bisher.

Und vielleicht haben sie langsam auch Auswirkungen. Zwischen sechs- und zehntausend Israelis (je nachdem, welche Zeitung man liest) demonstrierten in Tel Aviv gegen die rechtsgerichtete Politik ihrer Regierung und für einen unabhängigen Palästinenserstaat. Ihre Devise: „Die Regierung versenkt uns alle.“ 

Davon ausgehend, dass die Bevölkerung Israels nur etwa ein Vierzigstel der Bevölkerung der Vereinigten Staaten von Amerika ausmacht, entspricht das etwa einer Viertelmillion bis 400.000 Menschen, die hier am gleichen Tag Antikriegsdemonstrationen durchführen würden. Nicht gerade überwältigend, aber sicher bemerkenswert angesichts der vielen Nachrufe in letzter Zeit, in denen der Tod der isralischen Linken erklärt worden war. (Ich hoffe nur, dass sie als Linke ihren Sinn für Humor behielten, als ein rechter Verrückter eine Rauchgranate in die Menge warf.)

Und was über die Diskussion der israelischen Aktionen hier in den Vereinigten Staaten von Amerika? Unsere Massenmedien haben schon immer weniger Debatte über die Politik Israels geliefert als die israelischen Medien selbst. Aber unsere lassen ein breiteres Spektrum von Meinungen zu, als das bisher der Fall war.

Die New York Times ließ eine ihrer Spitzenanalytikerinnen, Helene Cooper, ausführlich darüber schreiben, dass Israel zu einer Belastung für die Vereinigten Staaten von Amerika wird, was die Vereinigten Staaten von Amerika veranlassen könnte, ihre Politik gegenüber Israel zu ändern. Die Tatsache, dass Artikel wie dieser in den Top-Zeitungen der Vereinigten Staaten von Amerika erscheinen, ist bereits selbst eine Neuigkeit. Sie beeinflussen die öffentliche Meinung und lassen es eher wahrscheinlich erscheinen, dass die Administration Obama Israel zu wirklichen Kompromissen in Richtung Frieden zwingt, wenn auch nur, um amerikanische Interessen zu schützen.

Die New York Times brachten auch einen Kommentar vom jüdischen Schriftsteller Michael Chabon, der vorschlägt, die Juden sollten aufhören zu glauben, sie seien klüger und moralischer als alle anderen. Die Kurzversion auf der Website der New York Times fasste seine Botschaft so zusammen: „Die Juden sollten den Mythos ihrer Andersartigkeit aufgeben.“

Chernon verfehlte jedoch den springenden Punkt, den Avnery erfasste: für die meisten (obwohl sicher nicht für alle) Zionisten war das, was die Juden außergewöhnlich machte, ihre Geschichte der Verfolgung. Ganz egal, was sie machten, sie sahen sich als unschuldige Opfer – von vorneherein. Das war und ist offensichtlich noch immer das Herz des herrschenden zionistischen Mythos. Die meisten Amerikaner, die die Handlungen Israels unterstützen, sind noch immer in der selben mythischen Täuschung befangen. So übersehen sie sogar die ungeheuerlichsten unmoralischen Aktionen, die Israel begeht, und lassen sie durchgehen als „Selbstverteidigung“.

Das letzte Paradebeispiel: Charles Krauthammer, der in der Washington Post schreibt. Bevor wir uns mit seiner mythischen Abhandlung beschäftigen, ist es wichtig anzumerken, dass einen Tag danach die Washington Post den Versuch unternahm, diese auszugleichen. Sie gab Raum für einen Kommentar des außergewöhnlichen palästinensischen Journalisten Daoud Kuttab, der geduldig die Verwerflichkeit des israelischen Überfalls und die scheinbare Toleranz der Regierung Obama für diesen erklärte. Wichtiger noch, er lenkte das Augenmerk auf die Wurzel des Problems: die Weigerung Israels und der Vereinigten Staaten von Amerika, mit der Hamas-Regierung zu verhandeln.

Aber Kuttabs feiner Artikel bekam viel weniger Aufmerksamkeit als Krauthammers leeres Gerede. Stunden nach der Veröffentlichung von Kuttabs Artikel war der von Krauthammer noch immer der am öftesten gelesene und per e-mail weitergeleitete auf der Website der Washington Post. Das ist der einzige Grund, aus dem ihm überhaupt Aufmerksamkeit gebührt – weil so viele andere Menschen ihm Aufmerksamkeit schenken. Was beweist, dass sich ungeachtet der langsam sich verschiebenden politischen Gezeiten der alte zionistische Mythos von Unschuld und Opferrolle noch verkauft, sogar in den einflussreichsten Medien Amerikas.

Krauthammer betete die ganze Litanei von angeblichen Bedrohungen der Existenz Israels herunter. Irgendwie schaffte er es, alle seine „Beweise“ zusammenzumischen und zu „beweisen“, dass die Gaza-Flotte den Zweck verfolgte, „Israel jeglicher legitimen Möglichkeit von Selbstverteidigung zu berauben.“ 

Und um dem noch die Spitze aufzusetzen, so jammerte er, „gesellte sich die Obama-Administration zu den Schakalen ... indem sie ein gemeinsames Dokument mit beschloss, das eigens auf Israels Besitz von Atomwaffen abzielt – und dadurch Israels letzter Möglichkeit der Verteidigung die rechtliche Grundlage entzieht: Abschreckung.“ Armes Israel. Wie kann es sich nur selbst verteidigen, wenn es seine Atomwaffen nicht hat (vielleicht um die 200), während kein Land im Nahen und Mittleren Osten nicht einmal eine Atombombe besitzt? 

Das alles beweise, folgert der berühmte Neokonservative, dass „die Welt von diesen problematischen Juden genug hat, 6 Millionen – schon wieder diese Zahl – hart am Mittelmeer, die sich jeder Aufforderung zum nationalen Selbstmord widersetzen. Dafür werden sie erbarmungslos dämonisiert, ghettoisiert und abgehalten, sich selbst zu verteidigen, während die engagierteren Antizionisten – besonders die iranischen – offen eine noch endgültigere Endlösung vorbereiten.“ 

Ja, deswegen braucht Israel Atombomben. Weil alle seine Kritiker in einer ungeheuren Verschwörung darauf aus sind, Hitlers Werk zu vollenden. Nur die Drohung mit nuklearer Vernichtung hält sie davon ab, jeden letzten Juden umzubringen.

Dieses schafsgesichtig ernste Herunterbeten des müden ausgelutschten Mythos der jüdischen Opferrolle und Unschuld – als wäre das alles empirisch bewiesene Tatsache – wäre witzig, würde das nicht so weit verbreitet geglaubt, so schnell über das Internet verbreitet und ist deswegen so gefährlich. In der Tat hätte ich erwartet, dass Krauthammer seinen Artikel mit der Frage der jüdischen Mutter im Witz beendet hätte „Warum sollte uns jemand umbringen wollen? Was haben wir ihnen getan?“

Geblendet vom Mythos kann er natürlich das Offensichtliche nicht sehen: Im Gegensatz zu den Zeiten, aus denen der Witz stammt, sind die Juden heute nicht machtlos, besonders in Israel. Jedesmal, wenn sie ihre Macht benutzen, um andere zu beherrschen und dann jammern „Es ist Selbstverteidigung; was haben wir ihnen getan?,“ machen sie mögliche Freunde zu Feinden. Wie Avnery sagt, sieht es so aus, als wäre es genau das, was die Israelis erreichen wollen – was auch lustig sein könnte, wäre es nicht so tragisch.

Angesiedelt auf dem ganz rechten Ende des politischen Spektrums, wird Krauthammer den Witz natürlich nicht verstehen. Konservative haben halt keinen Sinn für Humor.

 
     
  Erschienen am 8. Juni 2010 auf > http://www.antiwar.com > http://original.antiwar.com/chernus/2010/06/07/what-have-we-ever-done-to-them/  
     
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