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  Die Hilfsflotte in der israelischen Presse

Ran HaCohen 

Nicht viele Gewalttaten können weniger umstritten sein als Israels Überfall auf die Hilfsflotte unter türkischer Flagge, die gestern auf Gaza zusteuerte. Wie somalische Piraten überfiel Israel die Schiffe in internationalen Gewässern. Wie die schwärzesten Regimes eröffneten israelische Streitkräfte das Feuer auf unbewaffnete Zivilpersonen, die niemanden bedroht hatten außer der Belagerung, die Israel (mit ägyptischer Kooperation und Unterstützung der Vereinigten Staaten von Amerika) gegen Gaza verhängt. Die Verurteilung dessen, was der türkische Ministerpräsident richtig als „Akt des staatlichen Terrorismus“ bezeichnete, erfolgte weltweit, mit Ausnahme des verschämten Murmelns der amerikanischen Regierung (aber was soll man schon vom Komplizen erwarten?).

An jedem normalen Ort würde man erwarten, dass Massen auf die Straße gehen und protestieren. Genau das ist auch auf der ganzen Welt passiert. Nicht in Israel. Ein paar hundert Menschen demonstrierten in Tel Aviv und in einigen weiteren Städten, aber es kamen auch ein paar hundert zusammen, um Eier gegen die türkische Botschaft zu werfen. An der inneren Front braucht sich die israelische Regierung keine Sorgen zu machen.

Wie ist es zu diesem Konsens gekommen? Wie kann man Millionen von ordentlich erzogenen Bürgern in schweigende Lämmer verwandeln, oder noch schlimmer, in Unterstützer des Terrorismus, den ihr eigener Staat ausübt? Wenn wir uns auf einen kurzen Zeitraum beschränken und um der Kürze willen Jahrzehnte der Indoktrination übergehen, kann man ein paar Themen in der israelischen Propaganda erkennen, die in den ersten Stunden nach dem Zwischenfall auftauchten.

Immer wiederkehrende Themen

Das erste Thema war „Waffen.“ Die Friedensaktivisten wurden von Israel schnell als „bewaffnet“ beschrieben. Die Details wechselten innerhalb von Minuten: einige Medienkanäle behaupteten, sie hätten einem israelischen Soldaten eine Schusswaffe abgenommen, andere sagten, ein leeres Munitionsmagazin sei an Bord gefunden worden, wieder andere wiederholten einfach die Wörter „bewaffnet“ oder „trugen Waffen“, ohne das zu erläutern. Das Adjektiv „kalt“ verschwand aus dem gestrigen hebräischen Wörterbuch: jedes Messer, jeder Stock, Stuhl oder Polster machte aus seinen Inhabern gefährliche Killer – besonders gegenüber den israelischen Elitesoldaten, die das Schiff friedlich und mit leeren Händen bestiegen (außer ihren nicht erwähnten Pistolen, Revolvern, Handgranaten, Tränengas, Schockwaffen, Lärmbomben, Schutzwesten usw. usf.).  

Bald danach kam eine israelische Militärsprecherin mit dem närrischsten Thema von allen heraus: „Lynchen.“ Die israelischen Soldaten, so behauptete das offizielle Israel schamlos, mussten sich verteidigen, um nicht von den Aktivisten gelyncht zu werden. Das ist die direkte Fortsetzung des vorhergehenden Themas: wenn unbewaffnete Demonstranten in bewaffnete Killer verwandelt werden, wenn bewaffnete Elitesoldaten, die ein Schiff kapern, zu freundlichen Besuchern werden, kann man ruhig auch behaupten, dass die ersteren die letzteren „lynchen.“

Man muss schon ganz verrückt sein um zu behaupten, dass bewaffnete Soldaten von unbewaffneten Zivilisten gelyncht werden, das ist nicht nur eine Beleidigung der Intelligenz, sondern auch der Soldaten selbst. Deswegen wurde ein alternatives Thema eingeführt: „Kampf.“ Die Auseinandersetzung auf dem Schiff wurde ausdrücklich als „Kampf“ bezeichnet, als wäre die armselige israelische Armee (mit Schiffen, Helikoptern, elektronischen Geräten) einem wütenden türkischen Bataillon gegenüber gestanden. Offensichtlich legen alle drei Themen – „Waffen,“ „Lynchen,“ und „Kampf“ – nahe, dass die israelischen Soldaten das Feuer eröffnen mussten; sie waren die Opfer des ruchlosen Angriffs der Großen Türkischen Armada.  

Ein viertes Thema war „Falle” (oder „Hinterhalt“). Auch das ermöglicht Israel, diejenigen, die die Falle aufgestellt haben – die Hilfsflotte – als Aggressoren hinzustellen, während die israelische Armee unglücklicherweise ein passives, unschuldiges Opfer der feindlichen Verschwörung war.

Sehen wir uns an, wie die israelischen Zeitungen vom Dienstag diese Propagandathemen aufbereitet haben.

Boulevardzeitung Nummer Eins

Die rechtsgerichtete Tageszeitung Ma´ariv stellte ihre Schlagzeile in die Mitte eines verschwommenen Fotos, zur Verfügung gestellt von der israelischen Armee, mit den Worten „der brutale Angriff auf die Kämpfer: Knüppel, Äxte, und ein Kämpfer vom Deck geworfen.“ Jetzt wissen wir also, wer die wirklichen Opfer sind. Die Schlagzeile lautete: „Der Fehler (neun Demonstranten getötet, weltweite Aufregung, Regierung mauschelt, gegenseitige Beschuldigungen an der Spitze) – und der Heroismus (ungeachtet der Geheimdienstfehler und der harten Gewalt konnten die Kämpfer die Schiffe übernehmen).“ Die Kritik an der Regierung verfolgt nur den Zweck, sich einig hinter das Militär zu stellen, und die Soldaten, die Blut vergossen haben, sind nichts weniger als „Helden.“ Auf dem unteren Teil der Seite waren zwei austauschbare Bilder, eines zeigte Demonstranten, die eine israelische Fahne zerrissen, das andere Polizisten, die einen Demonstranten neben einem großen Feuer verhafteten. Die Untertitel: „Die Türkei kocht“ und „Die (israelisch arabische) Sektion dreht durch.“ Beide Bildunterschriften erwähnten „Fahnen der Palästinenser und der Hamas überall,“ „zerrissene israelische Fahnen,“ „wütender Mob,“ „Molotowcocktails, Feuer und verletzte Polizisten.“ Einmal mehr beachte man, wer in dieser Geschichte der Aggressor und wer das Opfer ist. Nebenbei bemerkt berichtete keine israelische Zeitung über die Demonstrationen gegen die Operation in Israel; es wurde höchstens über „Unruhen“ in israelisch-arabischen Städten berichtet. 

Zusätzlich brachte Ma´ariv sechs Meinungs- und Analysekommentare, die alle auf Seite 1 begannen. Der Journalist Ben Kaspit begann seine Kolumne unter dem scheinheiligen Titel „Absolute Dummheit“ mit dem folgenden Satz: „Als erstes muss klar sein: in dieser Geschichte stehen wir auf der richtigen Seite.“ Der israelische Daniel Pipes, der Demagoge Ben-Dror Yemini schimpfte über was er als „eine Führung von Narren“ bezeichnete, über deren „Niederlage in einer Schlacht um ein Schiff voller Hamasniks“ – die Aktivisten wurden also als Hamas-Terroristen hingestellt und der israelische Piratenakt als Schlacht, also ganz im Sinne der offiziellen Propaganda. Ofer Shelach, ein kritischer Kolumnist, brachte einen neuen Aspekt der Opferrolle der Soldaten ins Spiel: „von diesem Tag an sind die Hände der besten Einheiten dieser Armee, deren Kämpfer ehrlich dabei sind, um den Staat Israel zu verteidigen, mit dem Blut von Zivilisten beschmiert.“ Weiter geht die Kritik nicht. Unter ihm drängte Alan Dershowitz: „keine voreiligen Verurteilungen,“ um gleich danach das Urteil abzugeben, dass der Angriff auf die Schiffe außerhalb von Israels territorialen Gewässern eine gerechtfertigte Handlung war. Was kann man auch schon erwarten von diesem diskreditierten Spaßvogel? Dennoch war Dershowitzs befehlender Ton höflich im Vergleich zu den beiden israelischen Kolumnisten nach ihm, die die Leser direkt aufforderten, zu „Salutieren und das Maul halten!“: „Die Bilder werden die scheinheilige Welt nicht überzeugen, aber sie sollten jeden zionistischen Israeli - stehe er links oder rechts - dazu bringen, den Kämpfern zu danken ...“ Am Ende zog der Journalist Shalom Yerushalmi politische Schlüsse. „Und was ist mit dem Lynchen?“ werden Sie fragen. Keine Angst: Ma´arivs Titelseite endete mit einer großen Schlagzeile ganz am unteren Rand: „Netanjahu: ‚Die israelischen Soldaten haben sich selbst gegen ein Lynching gewehrt.’“ Alle Propagandathemen sind hier vertreten.

Boulevardzeitung Nummer Zwei

Die rechtsgerichtete Tageszeitung Yediot Achronot vertrat eine komplett entgegengesetzte Linie, was die Platzierung des Themas „Lynchen“ betrifft. Hier stand es nicht am Ende, sondern ganz oben auf der Seite: „Der Hinterhalt: ‚Wir fühlten uns wie in einer Lynchaktion,’ sagten die Kämpfer.“ Der große Aufmacher war ein einziges Wort: „die Falle,“ Thema Nummer vier. In einem großen Bild von Reuters (euphemistische Beschreibung der Entführung: „die Boote des Marinekommandos eskortieren eines der Schiffe“) waren drei kleinere Bilder abgedruckt, eines mit dem Untertitel „Ein Soldat vom Deck geworfen,“ eines mit „Die Waffen: Messer und Stöcke,“ und ein drittes, das ein grünes Tuch mit arabischer Beschriftung zeigt, auf dem zwei Dutzend Messer verstreut sind, einige davon kleine Küchenmesser; ohne Worte, ohne Hinweis. Ma´ariv hatte dasselbe Bild auf Seite 8 mit Hinweis auf „Die Sprecherin der israelischen Armee,“ die wahrscheinlich das grüne Tuch als suggestiven Hintergrund benutzte.

Sieben Kolumnisten schafften es auf die Titelseite. Der Journalist Nahum Bernea sagte, die „Übernahme“ endete in „Frustration“: „Israel unternahm gestern einen Versuch zu beweisen, dass die Leute, die das Kommando an Bord erwarteten, keine Menschenrechtsaktivisten waren, sondern gewalttätige Schurken. Ich nehme an, dass das stimmt. Die Frage ist allerdings, warum Israel diesen Schurken genau das gab, was diese wollten.“ Die Journalistin Sima Kadmon umschrieb ein israelisches Klischee: „Wo sind die Zeiten, in denen wir ein bisschen weniger rechtsbewusst, aber ein bisschen weiser waren,“ was nahelegt, dass die Aktion perfekt in Ordnung, aber einfach unklug war. Der extrem militaristische Journalist Alex Fishman sagte das Gleiche anders: „Die Übernahme war richtig und notwendig, und wird auch beim nächsten Mal richtig und notwendig sein.“ Der Analyst Sever Plotzker forderte Verteidigungsminister Ehud Barak auf zurückzutreten, nicht ohne den wahren Grund für das Blutbad auf hoher See zu nennen: „Die Falle der Hamas-Provokation.“ Der dienstältere Kolumnist und politische Berater Eitan Haber begann positiv: „man hätte versuchen können, dieses Problem friedlich zu lösen.“ Liest man den Rest seines Artikels (Seite 8), erfährt man, dass er im Vorfeld konsultiert worden war, aber „ich hatte keinen Zweifel, dass mein Vorschlag, wie mit dieser Flotte von Halunken umzugehen sei, nicht angenommen würde.“ Habers Bedenken waren keineswegs moralischer Natur: er sorgte sich, dass Israel die Türkei als Verbündeten verlieren könnte. Als nächster erklärte der Journalist Amnon Avramovitz, dass Netanjahu wiederholt „glücklos“ war, und zu guter Letzt schloss der rechtsgerichtete Kolumnist Hanoch Daum: „Es war nicht Israel, das die Konfrontation auf hoher See in die Wege leitete, es war nicht Israel, das Kämpfer mit kalten und heißen Waffen angriff. Und es ist nicht Israel, das zur Verantwortung gezogen werden sollte. Es ist die Schuld der Hamas. Statt die lächerlichen Behauptungen der Welt zurückzuweisen, beginnen wir mit einer Runde der Selbstbeschuldigung.“

Qualitätszeitung

Wie steht es mit Ha´aretz, Israels liberaler Qualitätstageszeitung? Die Schlagzeile enthüllte den Schwerpunkt: „Die gescheiterte Aktion des israelischen Militärs sorgt für internationalen Aufruhr.“ Darunter vier kleine Bilder, eines vom Militär aufgenommen – „Soldat vom Deck geworfen“, das gleiche wie in den beiden Boulevardblättern (allerdings um einiges kleiner) – eines von Reuters (das gleiche wie in Yediot), ein von der israelischen Polizei aufgenommenes, und eines, das den Verteidigungsminister mit zwei Generälen in Uniform zeigt. Ganz anders als in den Boulevardzeitungen findet sich das Wort „Lynchen“ weder am oberen noch am unteren Rand, sondern im Kleingedruckten auf der Mitte der Seite: „der Verteidigungsminister ... sagte gestern, die Soldaten seien auf extreme Gewalt gestoßen und rechtfertigte die Entscheidung, das Feuer zu eröffnen damit, die Kämpfer zu schützen, die, wie sie sagten, in Gefahr waren, gelyncht zu werden.“ Vier Meinungskommentare schafften es auf die Titelseite der hebräischen Druckausgabe: der Leitartikel, die Kolumnisten Ari Shavit und Amos Harel, und der Schriftsteller David Grossman. Die beiden ersteren kann man auf Englisch im Internet finden; die beiden letzteren fehlen, während ich das hier schreibe. Alle waren in einem bestimmten Ausmaß kritisch: der Leitartikel forderte eine Untersuchung; Shavit zog einen wenig originellen historischen Vergleich zu dem Überfall auf das Schiff Exodus; Harel schrieb, dass die Vertreter des Militärs keine Probleme damit hatten, die Aktion der israelischen Öffentlichkeit zu erklären: aufgrund der „extremen Gewalt“, der sie begegneten, hatten die Soldaten „keine andere Wahl,“ „Verletzungen ausgesetzt und umringt von einer gewalttätigen Menge, die sie mit Stöcken schlug ... unter diesen Umständen war es kein Wunder, dass sie mit scharfer Munition schossen, um sich zu verteidigen.“ Alle drei Kolumnen bedauerten sehr den Schaden für den Ruf Israels. Kein Wort über Moral oder Rechtmäßigkeit: Israels Image steht auf dem Spiel. Wegen dieses einen Fehlers könnte die Welt irrtümlich auf den Gedanken kommen, dass Israel nicht mehr das friedliebende, gesetzestreue, vernünftige, gemäßigte und wohlwollende Land ist, das es in Wirklichkeit ist. 

Die eine milde Ausnahme war David Grossman, der für das Verbrechen das Wort „Verbrechen“ verwendete, und obwohl auch er den „Falle“-Metapher verwendete, unterschied er zwischen der „kleinen, fanatischen türkischen Organisation“ hinter der Flotte und den „hunderten Aktivisten für Freiheit und Gerechtigkeit“ an Bord. Grossman setzte auch die Aktion außerhalb von Israels Hoheitsgewässern mit einem Akt der Piraterie gleich. Er betrachtete die Aktion im größeren Zusammenhang mit Israels „himmelschreiender“ Belagerung von Gaza, und sein letzter Absatz kann nicht nur seine, sondern auch meine Kolumne zusammenfassen:

„Mehr als alles andere ist diese verrückte Operation der Beweis für den Zustand, den Israel erreicht hat. Es bringt nichts, darüber viel zu schreiben. Wer Augen in seinem Kopf hat, sieht und fühlt es. Ohne Zweifel werden ein paar gewitzte Köpfe innerhalb weniger Stunden einen Weg finden, die (natürlichen, gerechtfertigten) Schuldgefühle vieler Israelis in eine lautstarke Anklage gegen die ganze Welt umzumodeln. Mit der Schande zurechtzukommen wird allerdings schwieriger sein.“

 
     
  Erschienen am 2. Juni 2010 auf > http://www.antiwar.com > http://original.antiwar.com/hacohen/2010/06/01/the-flotilla-in-the-israeli-press/  
     
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