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  Die dunkle Seite des Hochsicherheitsstaats Israel

Anat Kam: Spionin oder Whistleblower?

Jonathan Cook 

Was in Israel irreführend als „Spionageaffäre Anat Kam“ bezeichnet wird, zeigt schnell die dunkle Schattenseite einer Nation, die Jahrzehnte lang am Altar des Hochsicherheitsstaats geopfert hat. 

In der kommenden Woche wird um das Leben der 23 Jahre alten Anat Kam verhandelt – oder besser gesagt die Forderung des Staates, sie lebenslänglich dafür einzusperren, dass sie dem israelischen Reporter Uri Blau von der liberalen Tageszeitung Haaretz geheime Dokumente weitergegeben hat. Sie ist angeklagt wegen Spionage.

Blau selbst verbirgt sich in London – ihn erwartet, wenn nicht ein Mordkommando des Mossad, so zumindest die größten Anstrengungen der israelischen Sicherheitsdienste, ihn nach Israel zurückzubringen, gegen den Widerstand seiner Herausgeber, die befürchten, dass auch er aus dem Verkehr gezogen wird.

Diese Geschichte spielt sich seit Monaten hinter den Kulissen ab, seit dem vergangenen Dezember, als Anat Kam im Zuge des Verfahrens unter Hausarrest gestellt wurde.

Kein Wort über diese Angelegenheit drang bis diese Woche an die Öffentlichkeit in Israel, bis die Sicherheitsdienste, die von den Gerichten einen Blanko-Maulkorberlass bekommen hatten – sozusagen einen Maulkorberlass über den Maulkorberlass – gezwungen waren, ihren Kurs zu ändern, nachdem Blogger im Ausland ihre Einschränkungen nutzlos zu machen begannen. Auf hebräischen Seiten auf Facebook war bereits die ganze Geschichte zu finden.

Nachdem also schon so viel von diesem Fall bekannt ist, welche Verbrechen haben Kam und Blau begangen? 

Während ihres Militärdienstes kopierte Anat Kam möglicherweise hunderte von Armeedokumenten, die systematische Verbrechen des israelischen Oberkommandos in den okkupierten palästinensischen Territorien enthüllten, einschließlich Befehlen, Gerichtsurteile zu ignorieren. Sie arbeitete zu der Zeit im Büro von Brigadegeneral Yair Naveh, der das Kommando über die Operationen in der West Bank führt.

Uri Blaus Verbrechen besteht darin, dass er eine Serie von Artikeln auf der Grundlage ihrer weitergegebenen Informationen veröffentlichte, die hohe israelische Offiziere sehr in Verlegenheit brachten, indem sie deren Verachtung für den Rechtsstaat zeigen.

Seine Berichte enthielten Enthüllungen darüber, dass das Oberkommando genehmigt hatte, bei den militärischen Mordaktionen („außergerichtlichen Tötungen“) in den okkupierten Gebieten anwesende Palästinenser abzuknallen; dass entgegen einer Verpflichtung gegenüber dem Obersten Gerichtshof die Armee Befehle erteilt hatte, gesuchte Palästinenser umzubringen, auch wenn sie sicher festgenommen werden hätten können; und dass das Verteidigungsministerium einen geheimen Bericht ergestellt hatte, aus dem ersichtlich war, dass die große Mehrheit der Siedlungen in der West Bank sogar nach israelischem Recht illegal ist (nach Internationalem Recht sind alle illegal). 

In einem demokratischen Land hätte Anat Kam eine ehrenvolle Verteidigung gegen die Anklage und würde eher als Whistleblower (Aufdeckerin illegaler Aktivitäten) behandelt denn als Spionin, und Uri Blau würde Journalismuspreise bekommen, statt sich im Exil verstecken zu müssen. 

Aber das ist Israel. Trotz eines desperaten letzten Aufbäumens für die Prinzipien der freien Rede und die Rechtsstaatlichkeit in den Seiten der heutigen Nummer der Zeitung Haaretz, die selbst wegen ihrer Rolle in der Schusslinie steht, gibt es fast keine öffentliche Sympathie für Anat Kam oder gar Uri Blau. 

Die beiden werden bereits von Politikern und in Chat- und Diskussionsforen als Verräter beschrieben, die eingesperrt gehören, verschwinden oder hingerichtet werden sollten für das Verbrechen der Gefährdung des Staates.

Es liegt nahe, den Vergleich mit Mordechai Vanunu zu ziehen, dem ehemaligen Techniker in der Dimona Atomfabrik, der Israels Atomwaffenarsenal aufdeckte. In Israel wird er bis heute allgemein abgelehnt, nachdem er fast zwei Jahrzehnte in verschärfter Haft verbracht hat. Er steht noch immer unter Hausarrest und darf das Land nicht verlassen.

Uri Blau und Anat Kam haben jeden Grund anzunehmen, dass ihnen ein ähnliches Schicksal bevorsteht. Yuval Diskin, der Chef des Shin Bet, Israels Geheimpolizei, die die Untersuchung durchgeführt hat, sagte gestern, sie wären bisher „mit den Medien zu sensibel umgegangen“ bei der Verfolgung der Angelegenheit und dass Shin Bet jetzt „die Handschuhe ablegen wird.“

Vielleicht erklärt das, warum Anat Kams Wohnadresse noch immer sichtbar war auf der Anklageschrift, die gestern veröffentlicht wurde, wodurch ihr Leben in Gefahr gebracht wurde, etwa durch einen dieser fanatisierten Forumsteilnehmer.

Das zeigt, dass die Warnungen, die wir von Shin Bet bezüglich seiner Tätigkeit hatten, nicht aus der Luft gegriffen waren.

Nicht viel anders als Blau lebt Azmi Bishara, ehemals Anführer einer führenden arabischen Partei in Israel, heute im Exil, nachdem ihn Shin Bet aufs Korn genommen hatte. Er hatte für demokratische Reformen geworben, die Israel zu einem „Staat aller seiner Bürger“ statt zu einem jüdischen Staat machen sollten.

Während er 2007 im Ausland war gab Shin Bet bekannt, er würde nach seiner Rückkehr wegen Verrat vor Gericht gestellt, weil er angeblich Kontakte mit Hezbollah während Israels Überfall auf den Libanon 2006 hatte.

Wenige Experten glauben, dass Bishara irgendwelche für Hezbollah nützlichen Informationen hätte haben können, aber die Ziele und Arbeitsweise von Shin Bet wurden später von Diskin in einem Brief über seine Einstellung gegenüber Bishara und seiner Demokratisierungskampagne enthüllt. Es sei Aufgabe des Shin Bet, sagte er, den Aktivitäten von Gruppen oder Individuen entgegenzuwirken, die den jüdischen Charakter des Staates bedrohten „auch wenn solche Aktivitäten vom Gesetz erlaubt sind.“ 

Diskin bezeichnete das als Prinzip „einer Demokratie, die sich selbst verteidigt“, während es in Wirklichkeit das Anliegen jüdischer Führer in einem Staat ist, der auf Privilegien für Juden beruht, diese Privilegien zu schützen. Dieses Mal geht es um die Führer von Israels massiver Sicherheitsindustrie, die ihre Privilegien in einem Hochsicherheitsstaat dadurch schützen, dass sie die Zeugen ihrer Verbrechen zum Schweigen bringen und die einfachen Bürger in Unwissenheit halten.

Indem er seine Entscheidung, im Fall von Anat Kam und Uri Blau „die Handschuhe abzulegen“ rechtfertigte, sagte Diskin: „Es ist der Traum jedes Staatsfeindes, diese Art von Dokumenten in die Hand zu bekommen“ – man beachte, dass es hier um Dokumente geht, die belegen, dass die israelische Armee wiederholt die Gesetze des Landes gebrochen hat, natürlich zusätzlich zu ihren systematischen Verstößen gegen Internationales Recht.

Diskin behauptet, dass die nationale Sicherheit gefährdet wurde, obwohl die Berichte, die Blau aufgrund der Dokumente geschrieben hatte – und sogar die Dokumente selbst – dem militärischen Zensor vorgelegt und von diesem freigegeben worden waren. Der Zensor kann die Veröffentlichung nur wegen Bedenken hinsichtlich der nationalen Sicherheit unterbinden, im Gegensatz zu Diskin, Armeeführung und Regierung, für die offenbar andere Arten von Bedenken maßgeblich sind.

Diskin weiß, dass alles darauf hinweist, dass er mit diesen Machenschaften durchkommen wird, angesichts einer gehirngewaschenen israelischen Öffentlichkeit, weitgehend patriotischen Medien und einer unterwürfigen Justiz.

Die beiden Richter, die die Monate der Maulkorberlässe überwachten, um jede Diskussion dieses Falles in den Medien zu unterbinden, taten das auf die Behauptung des Shin Bet hin, dass wesentliche nationale Sicherheitsinteressen auf dem Spiel standen. Beide Richter sind getreue Anhänger der gewaltigen israelischen Sicherheitsindustrie.

Einat Ron wurde 2007 zur Zivilrichterin bestellt, nachdem sie ihre Karriere durch die Ränge der Militärjuristen gemacht und dort der Okkupation einen legalen Anstrich verpasst hatte. Berüchtigt 2003, als sie militärische Chefanklägerin war, schlug sie der Armee verschiedene Methoden vor, die Tötung des 11 Jahre alten palästinensischen Buben Khalil al-Mughrabi zwei Jahre zuvor zu vertuschen. Ihre Rolle kam nur ans Licht, weil ein geheimer Bericht über den Tod des Buben irrtümlich einem Brief der Armee an eine israelische Menschenrechtsgruppe beigefügt wurde. 

Der andere Richter ist Ze´ev Hammer, der diese Woche endlich den Maulkorberlass aufhob – aber nur nachdem die vormalige Richterin des Obersten Gerichtshofs Dalia Dorner, jetzt Leiterin des israelischen Presserats, diesen nachträglich mit Hohn überhäufte. Sie argumentierte, dass mit so viel Diskussion über diesen Fall außerhalb Israels die Welt den Eindruck bekam, dass Israel sich über demokratische Normen hinwegsetzte.

Richter Hammer nimmt laut dem israelischen Analysten Dimi Reider seinen eigenen hervorragenden Platz in der israelischen Sicherheitsindustrie ein. In seiner achtjährigen Studienzeit arbeitete Hammer für beide, Shin Bet und Mossad, den israelischen Nachrichtendienst. 

Richter Hammer und Richterin Ron sind tief verstrickt in die gleiche kriminelle Struktur – das israelische Sicherheitsestablishment – das jetzt versucht, die Spuren zu verdecken, die direkt zu seiner Tür führen. Anat Kam fragt sich ohne Zweifel, welche Interessen die Richter, die in der kommenden Woche ihren Fall behandeln, nicht offenlegen werden.

In seinem heutigen Artikel in Haaretz sagte Uri Blau, er sei gewarnt worden, „dass wenn ich nach Israel zurück komme, ich für immer zum Schweigen gebracht werden könnte, und ich würde angeklagt wegen Verbrechen, die mit Spionage in Zusammenhang stehen.“ Er folgerte daraus, dass „das nicht nur ein Kampf um meine persönliche Freiheit ist, sondern einer um Israels Image.“

Er sollte die Sorgen um Israels Image Netanyahu, Diskin und Richtern wie Dorner überlassen. Aus diesem Grund war der Maulkorberlass in erster Linie verhängt worden. Das ist kein Kampf um Israels Ansehen, es ist ein Kampf um das, was von seiner Seele noch übrig ist.

 
     
  Erschienen am 10. April 2010 auf > http://www.antiwar.com > http://original.antiwar.com/cook/2010/04/09/the-dark-underbelly-of-israels-security-state/  
     
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