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  2010: Willkommen in Orwells Welt

John Pilger 

In „1984” beschrieb George Orwell einen Superstaat namens Oceania, dessen Kriegssprache Lügen aufbaute, die „in die Geschichte eingingen und zur Wahrheit wurden. ‚Wer die Vergangenheit beherrscht,’ so der Leitspruch der Partei, ‚beherrscht die Zukunft; wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.’“

Barack Obama ist der Führer eines zeitgenössischen Oceania. In zwei Reden am Ende des Jahrzehnts beteuerte der Friedensnobelpreisträger, dass Frieden nicht länger Frieden ist, sondern ein anhaltender Krieg, der „sehr wohl über Afghanistan und Pakistan hinaus reicht“ zu „unordentlichen Regionen und diffusen Feinden.“ Er bezeichnete das als „globale Sicherheit“ und erheischte unsere Dankbarkeit. Den Menschen in Afghanistan, das die Vereinigten Staaten von Amerika überfallen und besetzt haben, sagte er witzig: „Wir haben kein Interesse daran, euer Land zu besetzen.“

In Oceania sind Wahrheit und Lügen untrennbar. Laut Obama war der amerikanische Angriff gegen Afghanistan 2001 vom UN-Sicherheitsrat genehmigt. Es gab keine Genehmigung. Er sagte, „die Welt“ unterstützte die Invasion in der Folge des 9/11, während in Wirklichkeit in einer Gallup-Erhebung alle außer drei von 37 Ländern eindeutig überwiegende Opposition zum Ausdruck brachten. Er sagte, dass Amerika in Afghanistan erst einmarschiert sei, „nachdem die Taliban sich geweigert hatten, Osama bin Laden herauszugeben.“ Das pakistanische Militärregime berichtete, dass die Taliban 2001 dreimal versuchten, bin Laden für ein Gerichtsverfahren auszuliefern, und ignoriert wurden. Sogar Obamas Mystifizierung des 9/11 als Rechtfertigung für diesen Krieg ist falsch. Mehr als zwei Monate vor der Attacke auf die Twin Towers wurde dem pakistanischen Außenminister Niaz Naik von der Regierung Bush mitgeteilt, dass es Mitte Oktober einen militärischen Angriff der Vereinigten Staaten von Amerika geben werde. Das Taliban-Regime in Kabul, das die Administration Clinton noch heimlich unterstützt hatte, wurde nicht mehr länger als „stabil“ genug betrachtet, um die Kontrolle Amerikas über die Öl- und Gas-Pipelines im Bereich des Kaspischen Meeres zu gewährleisten. Es hatte abzutreten.

Obamas unverfrorenste Lüge ist, dass Afghanistan heute ein „sicherer Hafen” für al-Qaedas Angriffe gegen den Westen ist. Sein eigener Sicherheitsberater General James Jones sagte im Oktober, in Afghanistan gäbe es „weniger als 100“ al-Qaeda-Leute. Laut U.S.-Geheimdiensten sind 90% der Taliban gar keine Taliban, sondern „eine Aufständischenbewegung auf Stammesebene, die sich als Gegner der Vereinigten Staaten von Amerika betrachtet, da diese eine Okkupationsmacht sind.“ Nur die uneingeschränkt Dummen glauben noch an den „Weltfrieden“ der Marke Obama.

Unter der Oberfläche verbergen sich allerdings ernsthafte Absichten. Unter dem eigenartigen General Stanley McChrystal, der sich mit seinen Mordkommandos in Irak einen Ruf erworben hat, bildet die Okkupation eines der ärmsten Länder ein Modell für jene „unordentlichen Regionen“ auf der Erde, die sich noch immer außerhalb der Einflusszone Oceanias befinden. Dieses ist bekannt unter dem Namen COIN – COunter-Insurgency Network (Netzwerk zur Bekämpfung von Aufständen) und umfasst Militär, Hilfsorganisationen, Psychologen, Anthropologen, die Medien und Leute aus der Werbebranche. Hinter Sprüchen von Herzen und Hirne gewinnen verbirgt sich das Ziel, ethnische Gruppen gegeneinander aufzuhetzen und Bürgerkrieg anzustiften: Tadschiken und Usbeken gegen Paschtunen.

Das haben die Amerikaner im Irak gemacht und eine multiethnische Gesellschaft zerstört. Mit Bestechung errichteten sie Trennwälle zwischen Gemeinschaften, die früher untereinander geheiratet hatten, was zu ethnischen Säuberungen gegen die Sunniten und zur Vertreibung von Millionen Menschen aus dem Land führte. Die eingebetteten Medien berichteten darüber als „Frieden“ und amerikanische Akademiker, gekauft von Washington, und vom Pentagon instruierte „Sicherheitsexperten“ traten in der BBC auf, um die guten Nachrichten zu verbreiten. Wie in 1984 entsprach genau das Gegenteil der Wahrheit.

Etwas ähnliches ist für Afghanistan geplant. Die Menschen sollen in „Zielgebiete“ gezwungen werden, die von den Amerikanern und durch den Opiumhandel finanzierten Warlords kontrolliert werden. Dass diese Warlords für ihre barbarischen Praktiken berüchtigt sind, spielt keine Rolle. „Damit können wir leben,“ sagte ein Diplomat der Ära Clinton zum Thema Unterdrückung der Frauen in einem „stabilen“ von den Taliban beherrschten Afghanistan. Ausgewählte westliche Hilfsorganisationen, Ingenieure und Landwirtschaftsexperten werden die „humanitäre Krise“ begleiten und auf diese Weise die unterjochten Stammesgebiete „sichern“.

Das ist die Theorie. Diese funktionierte in Jugoslawien, wo die Aufsplitterung nach ethnisch-religiösen Kriterien eine vormals friedliche Gesellschaft auslöschte, sie funktionierte aber nicht in Vietnam, wo das CIA-Programm der „strategischen Dörfer“ die Bevölkerung des Südens einzäunen und trennen sollte, um den Viet Cong zu besiegen –Viet Cong war der von den Amerikanern über den Widerstand gestülpte Überbegriff, ähnlich wie auch „Taliban“.

Hinter vielen dieser Dinge stecken die Israelis, die schon lange die Amerikaner bei den Abenteuern im Irak und in Afghanistan beraten haben. Ethnische Säuberungen, Mauerbau, Kontrollpunkte, Kollektivstrafen und dauernde Überwachung – sie laufen unter israelische Innovationen, die sich als erfolgreich beim Diebstahl eines großen Teils des palästinensischen Territoriums von seinen ursprünglichen Bewohnern erwiesen haben. Doch ungeachtet aller ihrer Leiden konnten die Palästinenser nicht unwiderruflich gespalten werden und bestehen weiterhin als Nation entgegen allen Erwartungen.  

Die vielsagendsten Vorläufer des Obamaplans, von denen der Friedensnobelpreisgewinner, sein eigenartiger General und deren Propagandaleute am liebsten hätten, dass wir sie vergessen, sind die, die in Afghanistan selbst eingefahren sind. Die Briten im 19. Jahrhundert und die Sowjets im 20. Jahrhundert haben versucht, dieses wilde Land mithilfe ethnischer Säuberungen zu erobern und wurden hinausgeworfen, obwohl erst nach furchtbarem Blutvergießen. Imperiale Friedhöfe sind ihre Denkmäler. Die Macht des Volkes, manchmal rätselhaft, oft heroisch, bleibt die Saat unter dem Schnee, und die Eindringlinge fürchten sie. 

„Es war sonderbar,“ schrieb Orwell in 1984, „zu denken, dass der Himmel über allen der gleiche war, in Eurasia oder Eastasia genauso wie hier. Auch die Menschen unter dem Himmel glichen einander sehr, überall, auf der ganzen Welt ... Menschen, die nichts von der Existenz der anderen wussten, auseinander gehalten durch Mauern aus Hass und Lügen, und doch fast genau die gleichen Menschen, die ... in ihren Herzen und Bäuchen und Muskeln die Macht speicherten, die eines Tages die Welt auf den Kopf stellen wird.“ 

 
     
  Erschienen am 31. Dezember 2009 auf > http://www.antiwar.com > http://original.antiwar.com/pilger/2009/12/30/2010-welcome-to-orwells-world/  
     
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