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  David Rohdes Erkenntnisse über die Motivation der Taliban 

Glenn Greenwald

David Rohde von der New York Times schreibt über die sieben Monate, in denen er als Geisel von einer Gruppe extremistischer Taliban in Afghanistan und Pakistan festgehalten wurde und berichtet über seine Beobachtungen darüber, was diese motiviert:

Meine Kidnapper hatten viele falsche Vorstellungen von Menschen aus dem Westen. Ich sah aber auch, wie einige Folgen der Washingtoner Antiterrorismuspolitik die Taliban aktiv werden hatten lassen. Anführer hielten sich an die Tötungen afghanischer, irakischer und palästinensischer Zivilisten durch Luftangriffe, wie auch an die amerikanische Internierung muslimischer Gefangener, die jahrelang ohne Anklage festgehalten worden sind.

Es sieht so aus, als führe unser Abwurf von Bomben auf islamische Länder – oder Angriffe Israels auf Palästinenser – zu antiamerikanischem Hass und Gewaltbereitschaft unter Muslims. Dasselbe geschieht, wenn wir Muslims ohne Anklage in Orte wie Guantánamo und Bagram sperren. Man stelle sich so etwas vor! Man erinnere sich, wie in Lawrence Wrights „The Looming Tower“ beschrieben wird, was den „Rädelsführer” des 9/11 Mohammed Atta dazu brachte, sich zu einer Selbstmordaktion zu entschließen, wie von Juan Cole während des israelischen Überfalls auf Gaza beschrieben wird: 

1996 bombardierten israelische Kampfflugzeuge ein Gebäude der UNO in Cana/Qana in Südlibanon, in dem Zivilisten Zuflucht gesucht hatten, und töteten 102 Menschen; an dem Ort, wo Jesus dem Vernehmen nach Wasser in Wein verwandelt hat, bewirkten die israelischen Bomben eine andere Form der Verwandlung. Im weit entfernten malerischen Hafen von Hamburg sah ein junger Student der Architektur aus Aleppo drastisches Filmmaterial wie dieses in den Nachrichten. Ärger und das Verlangen nach Vergeltung erfüllten ihn. In der Woche nach dem Beginn der Operation Grapes of Wrath legte er seinen Willen, Martyrer zu werden, schriftlich nieder und gab an, bei der Rache für die Opfer sterben zu wollen, die in dieser Operation getötet worden waren – mit Flugzeugen und Bomben, die Geschenke der Vereinigten Staaten von Amerika waren. Sein Name war Muhammed Atta. Fünf Jahre danach steuerte er American Airlines 11 in das World Trade Center. (Lawrence Wright, The Looming Tower, Seite 307: „Am 11. April 1996, als Atta 27 Jahre alt wurde, unterzeichnete er ein vorgedrucktes Testament, das er von der al-Quds-Moschee bekam. Das war an dem Tag, an dem Israel den Libanon in der Operation Grapes of Wrath überfiel. Wie einer seiner Freunde berichtet, war Atta wütend und bot durch das Ausfüllen des letzten Testaments im Gegenzug sein Leben an.“)

Am Dienstag beschoss das israelische Militär eine Schule der UNO, in der verschreckte Einwohner von Gaza Zuflucht gesucht hatten, und tötete mindestens 42 Menschen und verwundete 55, praktisch alles Zivilisten, darunter viele Kinder. Die Zahl der getöteten Palästinenser stieg auf 660. 

Es stellt sich die Frage, ob nicht auch heute jemand so ein Testament unterschreibt.

Diese Frage könnte – und sollte – man sich jedes Mal stellen, wenn die Vereinigten Staaten von Amerika oder Israel einen militärischen Schlag führen, der muslimische Zivilisten tötet, oder, wenn wir schon dabei sind, an jedem Tag, den wir in einem muslimischen Land Krieg führen. Rohde schreibt weiter, was diese Taliban motiviert: 

Amerika, Europa und Israel haben der Welt der Moslems Demokratie, Menschenrechte und überparteiliche Rechtssprechung gepredigt, sagten sie, haben aber diese Prinzipien selbst nicht eingehalten.

Eines der Tabuthemen in den amerikanischen Medien ist, wie die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika routinemäßig die Grundsätze verletzt, für die wir eintreten, und die wir dem Rest der Welt aufs Auge zu drücken versuchen. Wir foltern systematisch Moslems, vertuschen das dann und schützen unsere Folterknechte, während wir über Verantwortlichkeit und die Herrschaft des Rechts predigen; wir verurteilen das Fehlen ordentlicher Gerichtsverfahren und betreiben und expandieren gesetzwidrige Inhaftierungssysteme für Moslems; wir fordern die Einhaltung von UNO-Bestimmungen und Internationalem Recht, während wir Untersuchungen von UN-Berichten über von unseren Verbündeten begangenen Kriegsverbrechen und mögliche „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ blockieren; wir sind richtigerweise gegen Aggression, während wir gleichzeitig zahlreiche Länder okkupieren, während wir drohen, noch mehr anzugreifen, und Länder wie Israel bis an die Zähne bewaffnen, um weitere Überfälle zu verüben, usw. usw. 

Aufgrund der Vermeidung solcher Themen durch die Medien machen sich viele Amerikaner keine besonderen Gedanken über die große Kluft zwischen dem, was wir von uns behaupten und dem, was wir tun. Aber der große Teil der restlichen Welt – und ganz bestimmt die muslimische Welt – sieht diese Diskrepanz sehr klar, oft aus nächster Nähe. Das ist es, was wirklich zählt für die radikal verschiedenen, sogar unversöhnlichen Auffassungen, die Amerikaner und so viele Menschen im Rest der Welt darüber haben, wer wir sind und was wir tun („Warum hassen sie uns?“). Überrascht es wirklich, dass junge Taliban-Kämpfer, die seit acht Jahren von einer fremden Okkupationsarmee und einem gesetzwidrigen Gefängnissystem umgeben sind, auf diese Dinge „fixiert“ sind und dadurch radikalisiert werden? Sollte uns das nicht zum Nachdenken darüber bewegen, ob wir mit diesen Dinge aufhören sollten, nachdem sie nur das Problem verschlimmern, das zu lösen wir behaupten?

Zum Schluss beschreibt Rohde seine Behandlung in den Händen der Taliban in den sieben Monaten seiner Gefangenschaft:

Sie gelobten, den Lehren des Islam zu folgen, die die gute Behandlung von Gefangenen gebieten. In meinem Fall taten sie das ohne Frage. Sie gaben mir Wasser in Flaschen, ließen mich täglich in einem kleinen Hof spazieren und schlugen mich nie

Rohde führt aus, dass die Taliban automatisch annehmen, das Journalisten – besonders amerikanische Journalisten – Spione sind. Trotz dieser Annahme vollzogen die Taliban nie an ihm die Wasserfolter („Waterboarding“), hängten ihn nie nackt in einen kalten Raum, um Unterkühlung herbeizuführen, stopften ihn nie zur Strafe in eine sargähnliche Kiste, versagten ihm nie den Schlaf bis zum Punkt schwerer Disorientierung, sondern hielten sich statt dessen an ihr Gebot, das „die gute Behandlung von Gefangenen“ verlangte.“ Wir möchten vielleicht darüber nachdenken, was das über uns aussagt. Dass viele Taliban unmenschliche, brutale und barbarische Extremisten sind, unterstreicht das nur. 

 

Fortsetzung: von Bryan Bender, The Boston Globe, 9. Oktober 2009

Nahezu alle Aufständischen, die Truppen der Vereinigten Staaten von Amerika und der NATO bekämpfen, sind keine religiös motivierten Kämpfer der Taliban oder von al-Qaeda, sondern eine neue Generation von Stammeskriegern, die darauf aus sind, Land, Bodenschätze und Schmuggelrouten zu kontrollieren, wie neue U.S.-Geheimdienstberichte vermelden.

Einige der größeren Widerstandsgruppen, einschließlich einer, die für eine Serie von amerikanischen Toten in der letzten Zeit verantwortlich ist, waren sogar Gegner der strengen islamischen Regierung der Taliban in Afghanistan während der 1990er Jahre, wie Berichten zu entnehmen ist, die von U.S.-Beamten unter dem Siegel der Verschwiegenheit weitergetragen worden sind.  

„90% sind von Stämmen regional betriebene Aufstände,“ sagte ein U.S.-Geheimdienstvertreter in Washington, der an der Erstellung der Berichte beteiligt war. „Zehn Prozent sind hartgesottene Ideologen, die für die Taliban kämpfen.“ 

Militärbefehlshaber und Politiker der Vereinigten Staaten von Amerika bezeichnen den Feind locker als die Taliban oder Al Qaeda und propagieren damit das Bild von heiligen Kriegern, die versuchen, eine fundamentalistische Form des Islam zu verbreiten. Aber die hauptsächlich paschtunischen Kämpfer sind oft zutiefst über familiäre und soziale Bande mit den Tälern und Berggebieten verbunden, in denen sie kämpfen, und sie betrachten sich selbst als Gegner der Vereinigten Staaten von Amerika, da diese eine Okkupationsmacht sind, sagten die Beamten und Analysten.

Eines der erstaunlichsten propagandistischen Kunststücke ist, wie wir mit Menschen umgehen, die in einem Land leben, das wir überfallen, bombardieren und okkupieren – und die gegen uns kämpfen, weil wir das tun – und diese als „Terroristen“ hinstellen und dadurch „rechtfertigen“, ihr Land weiterhin zu bombardieren und zu besetzen („Wir müssen bleiben, um die Terroristen zu bekämpfen – das sind die Menschen, die uns bekämpfen, weil wir bleiben“).

 

Fortsetzung II: Der zweite Teil von Rohdes Geschichte ist jetzt erhältlich, in der er die ersten paar Wochen beschreibt, nachdem er nach Pakistan gebracht worden war, und hier finden wir folgendes:

In den nächsten paar Nächten besuchten uns eine Reihe von Haqqani-Anführern, die voller Hass auf die Vereinigten Staaten von Amerika und Israel waren und machten überaus harte kritische Bemerkungen, die unsere Gefangenschaft hindurch anhalten sollten. 

Einige ihrer Bemerkungen beruhten auf Tatsachen. Sie sagten, eine große Anzahl von Zivilpersonen sei in Afghanistan, Irak und den Palästinensergebieten durch Bombardierungen aus der Luft getötet worden. Muslimische Gefangene wurden im Irak misshandelt und sexuell gedemütigt. Scharen von Männern waren in Kuba und Afghanistan bis zu sieben Jahre lang ohne Verfahren eingesperrt worden.

Für Amerikaner waren derartige Vorfälle Fehltritte. Für meine Kidnapper waren sie der Beweis, dass die Vereinigten Staaten von Amerika eine scheinheilige und doppelzüngige Macht sind, die sich über das Internationale Recht hinwegsetzte.

Als ich ihnen sagte, dass ich ein unschuldiger Zivilist bin, der entlassen werden sollte, antworteten sie, dass die Vereinigten Staaten von Amerika Moslems jahrelang in geheimen Anhaltelagern festgehalten und gefoltert haben. Anführer sagten, sie selbst wären eingesperrt gewesen und ihre Familien hätten keine Ahnung über ihr Schicksal gehabt. Warum, so fragten sie, sollten sie mich anders behandeln? 

Man beachte, wie gerade die Politik, die im Namen der Bekämpfung des Terrorismus betrieben wird, das Problem verschärft. Man beachte auch die tiefe Kluft zwischen der Auffassung der Amerikaner von der Vorgangsweise der Vereinigten Staaten von Amerika (das sind nur „Fehltritte“) und dem, als was der größte Teil des Restes der Welt sie sieht, besonders die Menschen, die davon betroffen sind.

 
     
  erschienen am 18. Oktober 2009 in > Salon.com > http://www.salon.com/opinion/greenwald/2009/10/18/rohde/index.html  
     
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